Josepsson, Aevar Örn
Mitternacht geblieben. Dann hatten sie sich auf den Heimweg gemacht, Hólmfríður mit ihren Kindern in ihre Wohnung, und Bárður und Ragnar in das Hotel, in dem sie die letzten Jahre bei ihren Islandbesuchen immer abgestiegen waren. Úlfur war laut eigener Aussage an dem Abend allein zu Hause gewesen.
Die Bestätigung für Guðnis Theorie vom Vortag, die ihnen Friðjón vorhin gegeben hatte, setzte Úlfur sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes das Messer an die Kehle: An der Tatwaffe befanden sich Fingerabdrücke von Úlfur. Von den Spuren her zu urteilen, die das Messer an Rippen und Wirbelsäule hinterlassen hatte, war Selbstmord nahezu vollkommen ausgeschlossen. Mindestens vier Stiche hatten Geir und Friðjón festgestellt, mit einem gezähnten Messer mit breiter Schneide, und einer von ihnen war offensichtlich durch den Bauch bis zur Wirbelsäule gedrungen.
Und Guðni hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass Úlfur im Oktober 1993 verhaftet, verhört, angeklagt und dafür verurteilt worden war, in betrunkenem Zustand seinen Zechgenossen mit einem Messer attackiert zu haben. Er hatte dreimal mit voller Wucht zugestochen – und das Messer im Bauch stecken lassen. Der Zechkumpan hatte unglaubliches Glück gehabt und den Anschlag wahrscheinlich nur deswegen überlebt, weil Úlfur das Messer nicht herausgezogen hatte. Er sagte vor Gericht aus, dass Úlfur über ihn hergefallen sei, als er ihm nichts mehr zu trinken geben wollte und ihm rundheraus gesagt hatte, er solle sich verpissen und sich in die Falle hauen. Unbestreitbar deutete vieles darauf hin, dass Úlfur dasselbe Spiel dreizehn Jahre später wiederholt hatte; von den wenigen, die dafür überhaupt in Frage kamen, passte die Rolle des Täters am besten auf ihn. Stefán rief sich wieder und wieder ins Gedächtnis, was er nicht müde wurde, den Rekruten in der Polizeischule und seinen Mitarbeitern einzuschärfen:
Die wahrscheinlichste und augenfälligste Erklärung ist meistens die richtige.
Im Grunde genommen waren es nur drei Dinge, die einen Strich durch diese Rechnung machten und zur Folge hatten, dass sie in Stefáns Kopf nicht ganz aufging. Zum einen die halb volle Ginflasche auf dem Tisch. Hätte Úlfur die zurückgelassen? Wohl kaum, entschied Stefán.
Zum anderen die Tatsache, dass seitdem fast anderthalb Jahre vergangen waren, und Úlfur war weder umgezogen, noch hatte er sich gestellt und ein Geständnis abgelegt, wie es ein Mann von seinem Kaliber wohl früher oder später tun würde – und gemäß Stefáns jahrzehntelanger Erfahrung mit Leuten von Úlfurs Schlag meist sogar eher früher als später. Denn Úlfur war laut den Berichten über ihn, die Stefán am Abend vorher gelesen hatte, ein charakterschwacher Mensch mit bescheidenem IQ .
Und drittens war da noch Guðnis Bericht über das Verhalten von Úlfur am Tag vorher. Demzufolge hatte Úlfur sich in Ólafurs Wohnung hineinzudrängen versucht, um zu sehen, was da los war. So verhielt sich entweder ein neugieriger Nachbar, oder aber ein mit allen Wassern gewaschener Verbrecher. Stefán hatte keinerlei Zweifel, welcher Gruppe er diesen Úlfur zuordnen würde.
Zwar war er ein zwielichtiger und cholerischer Säufer, ein typischer ewiger Kleinkrimineller mit einem Strafregister auf dem Buckel, das sich von seinen jungen Jahren bis über die Jahrtausendwende erstreckte, mit unterschiedlich langen, erzwungenen Pausen dazwischen, die längste davon drei Jahre als Folge einer Messerstecherei, die als Tötungsversuch eingestuft worden war. Aber ein kaltblütiger Mörder?
Stefáns Gesicht verzerrte sich. Das ging einfach nicht auf. Außerdem waren die meisten der von Friðjón und Eydís asservierten Fingerabdrücke, DNA -Spuren und Papiere noch keineswegs ausgewertet worden, genauso wenig wie anderes Beweismaterial diverser Art. Niemand wusste, was dabei herauskommen würde. Überdies mussten sie selber noch den Tatort in Augenschein nehmen, und auch noch einiges andere war ungetan. Es war einfach viel zu früh, um Schlüsse zu ziehen.
Aber trotzdem … Úlfur stand wohl zuoberst auf der Liste der Verdächtigen, anderes zu behaupten, wäre unverantwortlicher Leichtsinn.
»Also«, verkündete er, als die Pizzen, Katrín und Guðni in seiner Tür auftauchten, so frisch und munter, wie es ihr jeweiliger Zustand erlaubte, »wir ziehen uns jetzt das hier rein, und dann marsch ab mit euch nach Breiðholt, dort könnt ihr euch Úlfuv schnappen. Ich glaube, es ist an der Zeit, den Kerl ein wenig in
Weitere Kostenlose Bücher