Josepsson, Aevar Örn
melierten patriarchalischen Bart und setzte sich.
»Dann weißt du mehr als ich«, sagte er gelassen, »Ich weiß nämlich nur, dass Ólafur noch am Leben war, als ich mich von ihm verabschiedete. Betrunken, aber quicklebendig, genau wie ich dir seinerzeit schon gesagt habe. Die Frage allerdings, die sich mir schon die ganze Zeit aufdrängt – Verzeihung, dass ich das zur Sprache bringe –, die Frage ist nämlich die, ob er noch am Leben war, als du zu ihm kamst? Denn als du gingst, war er tot, oder nicht?«
Ari ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und gab der Versuchung nach, seine Verwunderung und seine Unsicherheit wie schon so oft mit frommer Missbilligung zu tarnen.
»O ja«, sagte er, »er war tot, als ich ging. Und er war auch tot, als ich kam, so wie ich dir gesagt habe, als das … als wir zuerst über das Ganze gesprochen haben. Mir kam es jedenfalls so vor. Wie kommst du nur darauf, mich zu fragen, ob ich …«
»Und wie kommst du darauf, Bruder, mich zu fragen, ob ich in dieser Weise einem Menschen das Leben genommen habe? Ich habe dir ganz genau geschildert, was geschah, und es verletzt mich zutiefst, dass du, Bruder, ein weiteres Mal in diese Kerbe haust und ein weiteres Mal meine Worte in Zweifel ziehst. Meine Worte, die Worte deines Bruders.« Magnús unterstrich das Gesagte mit den Gesten des Predigers und sah seinem Bruder eindringlich, anklagend, trauernd, aber auch väterlich in die Augen. Darin war er Meister.
»Verzeih mir«, sagte Ari schließlich betreten.
»Dir ist verziehen, Bruder«, erklärte Magnús milde. Er schlug die Beine übereinander und machte es sich im Sessel bequem. »Und du kannst ganz beruhigt sein – ich habe bereits mit unserem Freund am Hlemmur gesprochen und ihm alles offen dargelegt. Und im Gegenzug hat er mir genau erklärt, wie wir ihnen gegenüber das Ganze am besten angehen, darauf werden wir gleich zu sprechen kommen. Im Augenblick müssen wir uns nämlich mit der Frage beschäftigen, wie wir das Ganze nach außen hin darstellen, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte. Wir müssen versuchen, die negativen Auswirkungen in Grenzen zu halten.«
Ari starrte seinen Bruder verständnislos an. »Was meinst du damit, wenn es zum Schlimmsten kommt?«
Magnús seufzte, faltete die Hände und lehnte sich vor.
»Mein lieber Ari, mein geliebter Bruder, ich weiß, dass ich es dir schon vor langer Zeit hätte sagen sollen, vielleicht schon vor deinem Anruf im vergangenen Jahr. Glaub mir aber, der einzige Grund, weshalb ich das nicht getan habe, ist der, dass ich dich liebe. Dich, die WAHRHEIT und Alpha. Aber …« Er blickte sich forschend um. »Sind wir ganz bestimmt alleine hier?«, fragte er.
*
Katrín beobachtete, wie der Krankenwagen hinter der Ecke verschwand. Nach den turbulenten Ereignissen der letzten Minuten musste sie erst einmal verschnaufen. Der Gedanke, dass sie Guðni körperlich berührt hatte, verursachte ihr nachträglich einen Schauder, den sie aber nicht verspürt hatte, als sie ihrem am Boden liegenden Kollegen das Hemd vom Leib gerissen und ihm nach allen Regeln der Kunst die haarige Brust geknetet und gleichzeitig über ihr Handy, das neben ihm auf dem Boden lag, Anweisungen gegeben hatte. Als die Sanitäter endlich auftauchten, mussten sie beinahe Gewalt anwenden, um an Guðni heranzukommen, und ihr die Wagentür vor der Nase zuschlagen, als sie ebenfalls in den Krankenwagen einsteigen wollte.
Jetzt stand sie wie Falschgeld auf dem Parkplatz herum und trat von einem Fuß auf den anderen, zitternd vor Kälte und Erregung.
»Dieser verdammte, dämliche Kerl«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und stampfte mit dem Fuß auf. Dann rief sie Stefán an. Er reagierte, wie nicht anders zu erwarten, mit Flüchen und Verwünschungen, und sie stimmte aus vollster Überzeugung darin ein, weil sie sich selber die meiste Schuld an Guðnis Zustand gab, obwohl sie wusste, dass das völlig unlogisch war. Guðni war viel zu fett, er ernährte sich von ungesundem Essen, er rauchte und kaute seine Stumpen, er war körperlich völlig außer Form. Im Grunde genommen hätte er bei sämtlichen Fitnesstests durchfallen müssen und deswegen nur auf Bewährung weiterarbeiten sollen, oder sogar krankgeschrieben oder in Pension geschickt werden müssen. Aber dort an ihrem ansonsten guten Arbeitsplatz herrschte eben diese unerträgliche Männer-und Cliquenwirtschaft. Sie hatte ihm mit ihrer Herzmassage aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben gerettet,
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