Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs (German Edition)
etwas beobachtet glaubst, das keine Augen hat.
»Mach schon«, sagte Mom. »Er beißt nicht. Stimmt’s, Micus?«
Der Baum schüttelte seinen buschigen Kopf hin und her.
»Schon gut«, sagte ich. »Aber eigentlich wollte ich über was anderes reden.«
Den ganzen Morgen waren mir Fragen durch den Kopf gegangen. Worüber hatten meine Eltern letzte Nacht geflüstert? Was war es, das sie vor mir geheim hielten?
Doch jetzt war eindeutig der falsche Zeitpunkt, diese Fragen zu stellen. Mom war durch Micus abgelenkt, der plötzlich wild mit den Ästen schlug wie ein kleines Kind, das einen Wutanfall hat.
»Oh, jetzt ist er wütend. Hier, gib ihm ein bisschen was davon.« Mom drückte mir einen Plastikbecher in die Hand. »Mit ein bisschen Wasser geht es ihm sicher gleich besser.«
»Bist du sicher?«, fragte ich.
»Natürlich. Wenn er etwas zu trinken hat, wird er sofort wieder munter.«
»Okay.« Ich beugte mich vor und neigte den Becher. Auf einmal schlang Micus einen Ast um mein Handgelenk. Ich versuchte, die Hand zurückzuziehen, doch Micus war überraschend stark für eine Topfpflanze.
»Nein, Micus!«, schrie Mom. »Lass sofort Joshua los!«
Stattdessen drückte der Baum mein Handgelenk zur Seite. Wasser schoss aus dem Becher, landete in dem Topf und lief über den Rand.
»Okay, ich geb dir ja, was du willst!«, schrie ich. »Wenn du mir nur nicht mehr weh tust!«
Ich konnte nicht fassen, dass ich mit einem eingetopften Baum um mein Leben feilschte.
Micus zerrte noch stärker, und der letzte Rest Wasser schwappte aus dem Becher. Schließlich hob Mom die Hand und streckte sie aus. Sie starrte den Baum mit einem konzentrierten Blick an, den sie immer hatte, wenn sie ihre Superkräfte benutzte. Ich spürte, wie sich der Griff der Pflanze lockerte. Und sobald ich frei war, sprang ich ans andere Ende des Esstischs, um mich zu beruhigen.
Ist es da ein Wunder, dass ich keine Lust mehr auf Frühstücken hatte?
*
Als ich in die Schule kam, redeten alle über den Kampf zwischen Captain Saubermann und meinen Eltern. Ein YouTube-Video von dem Moment, als sich mein Dad im Netz der Wahrheit verfing, hatte sich über Nacht rasant verbreitet. Und als ich auf dem Weg zur dritten Stunde war, wurde alles noch schlimmer. Ich kam gerade in der Nähe der Haupttreppe um die Ecke, als plötzlich eine raue Stimme rief.
»Hey, Scheißstreber! Wo willste denn hin?«
Mein Magen machte einen Salto. Die Stimme gehörte Joey Birch. Was »Scheißstreber« betraf – na ja, ich fürchte, dass war noch so ein Name, unter dem ich bekannt war.
Joey war drahtig und groß, hatte rote Haare und ein blasses, scharf geschnittenes Gesicht. Er lief durch die Flure der Sheepsdale Middle School und bedrohte, beklaute, bestach oder betrog die anderen Schüler – immer dicht gefolgt von Ziegelstein Gristol.
Niemand wusste, wie Ziegelstein zu seinem Spitznamen gekommen war. Vielleicht hatte es was mit seinem Intelligenzquotienten zu tun. Oder vielleicht auch damit, dass sein Schädel so flach und hart wie ein Ziegelstein war. Es gab Gerüchte, dass er schon drei Mal sitzengeblieben war. Das würde erklären, wieso er der einzige Sechstklässler mit Bartstoppeln und einem Führerschein auf Probe war.
Ziegelstein blickte auf mich herab und zeigte sein schiefes Grinsen. Er hatte ein T-Shirt an, auf dem stand:
Dieses Shirt besteht
zu 100% aus
recycelten Welpen
»Hör zu, Scheißstreber«, sagte Joey und trat einen Schritt auf mich zu. »Wir versuchen eine kleine Wette zu entscheiden. Ziegelstein meint, dass wir dich in einen Spind kriegen und die Tür danach noch zugeht. Ich sage, wir müssen dir vorher die Beine brechen, damit du rein passt. Was meinste, wer recht hat?«
Keine Option klang richtig gut für mich, aber ich hatte das Gefühl, dass sie meine Meinung auch gar nicht wissen wollten. Außerdem hatte ich bei den beiden jedes Mal, wenn ich zu sprechen versuchte, diesen gigantischen Kloß im Hals, und am Ende bekam ich nur einen komischen Laut heraus, der nach irgendwas zwischen Quieken und Gurgeln klang.
»Gut, dann machen wir’s so«, sagte Joey. »Wir brechen dir erst mal bloß ein Bein und stopfen dich rein. Und wenn es dann noch nicht passt, brechen wir dir auch das andere.«
Ziegelstein packte meinen Arm mit einer seiner behaarten Neandertaler-Hände. Mit der anderen Hand riss er an dem Griff des nächstbesten Spinds. Krachend schwang die Tür auf.
Ich wusste, dass ich unmöglich in den Spind passen würde. Nicht mal
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