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Joyland

Titel: Joyland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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dem ich so oft meinen Vater angerufen hatte – wobei ich hinterher stets brav die Zeit und die Dauer in die Liste eingetragen hatte –, klingelte plötzlich. In der nächtlichen Stille, in der nur das Rauschen des Windes zu hören war, klang es jedoch mehr wie ein Schrei. Ich stürzte mich darauf und nahm den Hörer ab, bevor es ein zweites Mal klingeln konnte.
    »H-H-Hal …« Mehr brachte ich nicht zustande. Dafür klopfte mein Herz zu heftig.
    »Du bist's ja«, sagte der Mann am anderen Ende. Er klang ebenso belustigt wie angenehm überrascht. »Ich hatte mit deiner Vermieterin gerechnet. Und mir sicherheitshalber eine Geschichte über einen familiären Notfall zurechtgelegt.«
    Ich versuchte zu sprechen, brachte aber nichts heraus.
    »Devin?« Spöttisch. Fröhlich. »Bist du noch dran?«
    »Ich … einen Moment.«
    Ich drückte den Hörer an die Brust, wobei ich mich fragte, ob man am anderen Ende der Leitung mein Herz schlagen hörte (schon seltsam, was für Kapriolen das Gehirn unter Stress schlägt). Dabei lauschte ich angestrengt – war Mrs. Shoplaw aufgewacht? Schließlich hörte ich ihr gedämpftes Schnarchen. Zum Glück hatte ich die Schiebetür geschlossen. Zum Glück hatte sie kein zweites Telefon in ihrem Schlafzimmer. Ich hob den Hörer wieder ans Ohr und sagte: »Was wollen Sie? Warum rufen Sie an?«
    »Ich glaube, das weißt du, Devin … und selbst wenn nicht, ist es jetzt irgendwie zu spät.«
    »Können Sie auch hellsehen?« Das war eine dumme Frage, aber in dem Moment gingen mein Gehirn und mein Mund getrennte Wege.
    »Das überlasse ich Rozzie«, sagte er. »Unserer Madame Fortuna.« Er lachte doch tatsächlich. Und klang ziemlich entspannt, auch wenn ich bezweifelte, dass er das war. Mörder rufen nicht mitten in der Nacht irgendwo an, wenn sie entspannt sind. Vor allem dann nicht, wenn sie sich nicht sicher sein können, wer abnimmt.
    Aber er hat sich eine Geschichte zurechtgelegt, dachte ich. Der Kerl ist ein Pfadfinder – verrückt, aber allzeit bereit. Die Tätowierungen zum Beispiel. Die schaut man unwillkürlich an, wenn man die Fotos betrachtet. Nicht das Gesicht. Oder die Baseballkappe.
    »Ich weiß, was du im Schilde führst«, sagte er. »Das wusste ich schon, bevor das Mädchen dir die Mappe gebracht hat. Die mit den Fotos drin. Und heute … die hübsche Mama und der kleine Krüppel … hast du es denen auch erzählt, Devin? Haben sie dir dabei geholfen, die Lösung zu finden?«
    »Sie wissen von nichts.«
    Eine Windbö strich über das Haus. Ich konnte das Heulen auch am anderen Ende hören … befand er sich etwa im Freien? »Ich frage mich, ob ich dir glauben kann.«
    »Das können Sie. Uneingeschränkt.« Die ganze Zeit über starrte ich die Bilder an. Der Tätowierte mit der Hand auf Linda Grays Hintern. Der Tätowierte, wie er ihr an der Schießbude beim Zielen half.
    Lane: Sie sind wirklich Annie Oakley, Annie.
    Fred: Wow, das war spitze.
    Der Tätowierte mit seiner Baseballkappe, der dunklen Brille und dem blonden Spitzbart. Den auftätowierten Vogel konnte man sehen, weil die Wildlederhandschuhe in seiner Gesäßtasche steckten, bis er und Linda Gray im Horror House waren. Bis er mit ihr in der Dunkelheit allein war.
    »Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte er. »Du warst heute Nachmittag recht lange in dem großen alten Haus, Devin. Habt ihr über die Fotos geredet, die die kleine Cook mitgebracht hat, oder habt ihr nur gevögelt? Vielleicht auch beides. Mama ist ja eine ziemliche Sahneschnitte.«
    »Die beiden wissen von nichts«, wiederholte ich. Ich sprach leise und hielt den Blick auf die geschlossene Schiebetür gerichtet. Dabei rechnete ich jeden Moment damit, dass sie aufging und Mrs. S. in ihrem Nachthemd hereintrat, mit von der Nachtcreme gespenstisch weißem Gesicht. »Und ich ebenso wenig. Jedenfalls nichts, was ich beweisen könnte.«
    »Gut möglich, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Wenn man weiß, was die Stunde geschlagen hat … das alte Sprichwort kennst du doch, oder?«
    »Na klar.« Und wenn nicht, hätte ich trotzdem ja gesagt – in dem Moment hätte ich ihm zugestimmt, wenn er behauptet hätte, Bobby Rydell (der jedes Jahr in Joyland auftrat) säße im Weißen Haus.
    »Ich sag dir jetzt, was du tun wirst. Du kommst nach Joyland, und wir reden über alles, von Angesicht zu Angesicht. Von Mann zu Mann.«
    »Warum sollte ich das machen? Das wäre ziemlich verrückt, wenn Sie wirklich …«
    »Oh, du weißt, dass ich es war.« Er klang

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