Joyland
sitze.« Und wenn ich keinen Platten hatte. Damals waren alle meine Reifen bis auf die Grasnarbe runtergefahren, und ich hatte andauernd einen Platten. Und das Ersatzrad, höre ich da? Sehr witzig, Señor. »Ich könnte die Nacht über in Portsmouth bleiben, anstatt direkt nach Hause zu fahren, und morgen bei dir sein, wenn …«
»Das ist keine gute Idee. Renee übernachtet hier, und du weißt ja, wie Nadine ist. Zu viele Leute verträgt sie einfach nicht.«
Kommt ganz auf die Leute an, fand ich – Nadine und Renee hatten sich immer wahnsinnig gut verstanden. Sie tranken endlos viel Kaffee zusammen und tratschten ohne Ende über ihre Lieblingsschauspieler, als wären die ihre besten Freunde. Irgendwie schien jetzt jedoch nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, das anzusprechen.
»Ich würd ja gern länger mit dir quatschen, Dev, aber ich bin schon unterwegs ins Bett. Ich und Ren hatten einen anstrengenden Tag. Wir waren shoppen und … so was halt.«
Was »so was« heißen sollte, führte sie nicht weiter aus, und ich musste feststellen, dass mir nicht danach war, sie zu fragen. Noch ein Warnsignal.
»Ich liebe dich, Wendy.«
»Ich dich auch.« Aber allzu leidenschaftlich klang das nicht, eher wie eine Floskel. Sie ist nur müde, redete ich mir ein.
Während ich in nördlicher Richtung aus Boston rausfuhr, hatte ich ein äußerst ungutes Gefühl. Weil sie so merkwürdig geklungen hatte? So wenig begeistert? Ich wusste es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt wissen wollte. Aber ich machte mir so meine Gedanken. Sogar noch jetzt, nach all den Jahren, geht mir das nicht aus dem Kopf. Heute bedeutet sie mir nichts mehr, sie ist eine Narbe und eine Erinnerung – jemand, der mir wehgetan hat, wie junge Frauen jungen Männern eben von Zeit zu Zeit wehtun. Eine junge Frau aus einem anderen Leben. Trotzdem frage ich mich, wo sie an jenem Tag gewesen ist. Was sich hinter so was verbarg. Und ob sie wirklich mit Renee St. Clair unterwegs gewesen war.
Man kann darüber streiten, wie die gruseligste Liedzeile in der Popmusik lautet, aber für mich stammt sie von den Beatles – von John Lennon, genau genommen –, und zwar heißt es da: I'd rather see you dead, little girl, than to see you with another man. Ich könnte jetzt behaupten, dass ich nie so empfunden habe, nachdem Wendy mit mir Schluss gemacht hat, aber das wäre gelogen. Das war nichts Anhaltendes, aber habe ich damals mit einer gewissen Gehässigkeit an sie gedacht? Und ob. In manchen langen schlaflosen Nächten war ich der Überzeugung, sie habe es verdient, dass ihr etwas Schlimmes passiert – etwas wirklich Schlimmes, so sehr hatte sie mir wehgetan. Es bestürzte mich, dass ich so dachte, aber ändern ließ sich daran nichts. Und dann dachte ich an den Mann, der mit einem Arm um Linda Gray und zwei Hemden übereinander in das Horror House gefahren war. Den Mann mit dem Vogel auf der Hand und dem Rasiermesser in der Tasche.
*
Im Frühjahr 1973 – dem letzten Jahr meiner Kindheit, wie ich im Rückblick feststellen muss – war ich der Meinung, aus Wendy Keegan würde einmal Wendy Jones werden … oder vielleicht Wendy Keegan-Jones, falls sie modern sein und ihren Mädchennamen behalten wollte. Wir würden in ein Haus am See ziehen, irgendwo in Maine oder New Hampshire (oder im Westen von Massachusetts vielleicht), ein Haus, in dem unser Nachwuchs herumtollen und ich Bücher schreiben würde, nicht unbedingt Bestseller, aber doch erfolgreich genug, uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen, und – sehr wichtig – von Rezensenten gelobt. Wendy würde ihren Traum verwirklichen und eine kleine Boutique aufmachen (auch diese wohlwollend aufgenommen), und ich würde hin und wieder Seminare in kreativem Schreiben geben, die von Studenten überlaufen wären. Natürlich wurde nichts davon je Wirklichkeit, und so ist es nur angemessen, dass wir als Paar das letzte Mal im Büro von Professor George B. Nako zusammen waren, einem Mann, den es nicht gab.
Im Herbst 1968 entdeckten Studenten der Universität von New Hampshire Professor Nakos »Büro« unter der Treppe im Keller der Hamilton Smith Hall. In dem Raum hingen gefälschte Diplome, seltsame Aquarelle mit der Aufschrift »Albanische Kunst« und Seminarteilnehmerlisten mit Namen wie Elizabeth Taylor, Robert Zimmerman und Lyndon Beans Johnson. Außerdem hingen dort die Themen von Examensarbeiten, die nie geschrieben wurden. Eine hieß »Sexstars des Orients«, eine andere »Die frühe Lyrik Cthulhus.
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