Joyland
Leben gerettet hatte.
Wahrscheinlich sagte ich deshalb: »Mike ist nicht der Meinung, dass es ihm gut geht. Wem soll ich nun glauben, Annie?«
Sie riss überrascht die Augen auf und erwiderte betont kühl: »Es ist mir egal, was Sie glauben, Devin. Das geht Sie wirklich nichts an.«
»Doch, das tut es«, sagte jemand hinter uns. Es war Mike. Sein Rollstuhl war nicht motorisiert, das heißt, er musste die Räder selbst mit den Händen antreiben. Der Junge war ein ganzer Kerl, Husten hin oder her. Allerdings hatte er sein Hemd falsch zugeknöpft.
Annie wandte sich überrascht zu ihm um. »Was machst du denn hier? Hab ich nicht gesagt, die Schwester soll dich …«
»Ich hab ihr gesagt, ich kann's allein, und sie hat's mir erlaubt. Von der Radiologie bis hierher ist es nur einmal links und zweimal rechts. Ich bin nicht blind, nur kurz davor abzu…«
»Mr. Jones hat einen Freund besucht, Mike.« Aha, ich war also wieder zu Mr. Jones degradiert worden. Sie knallte ihr Buch zu und stand auf. »Wahrscheinlich möchte er so schnell wie möglich nach Hause, und du bist bestimmt auch mü…«
»Ich möchte, dass er uns in den Park mitnimmt«, sagte Mike mit ruhiger Stimme, aber doch so laut, dass sich einige Leute umdrehten. »Uns. «
»Mike, du weißt, dass das nicht …«
»Nach Joyland. Nach Joy … Land.« Noch immer ruhig, aber wieder etwas lauter. Inzwischen waren aller Augen uns zugewandt. Annie war das Blut ins Gesicht geschossen. »Ich möchte mit euch beiden hingehen.« Seine Stimme wurde noch lauter. »Ich möchte, dass ihr mich nach Joyland mitnehmt, bevor ich sterbe. «
Sie legte die Hand vor den Mund und riss die Augen weit auf. Als sie schließlich etwas sagte, klang ihre Stimme gedämpft, aber sie war gut zu verstehen. »Mike … du wirst nicht sterben, wer hat dir denn das …« Wütend starrte sie mich an. »Haben Sie ihm diesen Unsinn erzählt?«
»Natürlich nicht.« Ich war mir nur zu bewusst, dass uns immer mehr Menschen zuhörten – unter anderem zwei Schwestern und ein Arzt in einem blauen OP-Kittel –, aber das war mir gleichgültig. Ich war immer noch wütend. »Er hat mir das erzählt. Warum überrascht Sie das, wo Sie doch alles über seine Eingebungen wissen?«
Es war mein Nachmittag, die Leute zum Heulen zu bringen. Erst Eddie, jetzt Annie. Mikes Augen waren allerdings trocken, und er sah ebenso wütend aus, wie ich mich fühlte. Aber er sagte nichts, als sie die Griffe seines Rollstuhls packte, ihn herumriss und in Richtung Ausgang schob. Ich befürchtete schon, sie würde in die Glastüren krachen, aber der Bewegungsmelder öffnete sie im letzten Augenblick.
Lass sie gehen, dachte ich bei mir, aber ich hatte es satt, Frauen gehen zu lassen. Ich hatte es satt, dass mir Dinge einfach widerfuhren, die mir hinterher leidtaten.
Eine der Schwestern näherte sich mir. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein«, sagte ich und folgte ihnen hinaus.
*
Annie hatte den Wagen direkt vor dem Krankenhaus abgestellt, unter einem Schild, auf dem BEHINDERTENPARKPLÄTZE stand. Sie fuhr einen Kombi, in dem hinten viel Platz für den zusammengeklappten Rollstuhl war. Die Beifahrertür war offen, aber Mike weigerte sich aufzustehen. Er klammerte sich so fest an die Armlehnen des Rollstuhls, dass die Hände leichenblass waren.
»Steig ein«, schrie Annie ihn an.
Mike schüttelte den Kopf, ohne sie anzuschauen.
»Steig ein, verdammt noch mal! «
Dieses Mal machte er sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln.
Sie packte ihn und riss ihn hoch. Die Bremsen des Rollstuhls waren eingerastet, und er neigte sich gefährlich nach vorn. Ich bekam ihn noch im letzten Moment zu fassen, sonst wäre er umgekippt, und die beiden wären in den offenen Kombi gepurzelt.
Annie war das Haar ins Gesicht gefallen, und die Augen, die zwischen den Strähnen hindurchschauten, funkelten wild: beinahe wie die Augen eines scheuenden Pferdes während eines Gewitters. »Lassen Sie los! Das ist alles Ihre Schuld! Ich hätte nie zulassen dürfen …«
»Das reicht!«, sagte ich und packte sie an den Schultern. Die Mulden dort waren tief, die Knochen dicht an der Oberfläche. Sie war so sehr damit beschäftigt, ihn mit Kalorien zu füttern, dass sie sich selbst vernachlässigt hat.
»LASSEN SIE MICH …«
»Ich möchte Ihnen Mike nicht wegnehmen«, sagte ich. »Annie, das ist das Letzte, was ich will.«
Sie hörte auf, sich zu wehren. Vorsichtig ließ ich sie los. Der Roman, den sie gelesen hatte, war während unseres
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