Jud Sueß
fragte den und jenen, ob er seine Tochter nicht gesehen habe; aber niemand hatte Magdalen Sibylle gesehen. Und Weißensee schwitzte an den langen, feinen Händen, und seine skeptischen Augen suchten bedrängt rechts und links.
Plötzlich, wie er den Süß sah, entschuldigte er sich bei den zwei anderen Herren, flatterte in seinem seidenen Venezianer Mantel ungewohnt hastig auf ihn zu und fragte nach seiner Tochter. Süß sagte leichthin, die Demoiselle habe etwas Kopfschmerz, sie habe sich in ein stilleres und kühleres Zimmer zurückgezogen. Der Kirchenratspräsident, ziemlich aus der Fassung, wollte zu ihr. Aber Süß meinte, es sei wohl am besten, die Demoiselle ruhen zu lassen; zumal, soviel erwisse, Serenissimus selbst sich um sie bemühe. Dabei schaute er den Weißensee mit einem unentwegten, frechen und verbindlichen Lächeln an. Der begann zu zittern, mußte sich setzen. Süß, nach einem kleinen Schweigen, meinte unvermittelt, immer lächelnd, der Herzog habe sich über den neuen Kirchenratspräsidenten ungewöhnlich gnädig geäußert, Rangerhöhung und Orden würden wohl nicht lang auf sich warten lassen. Weißensee nickte ein paarmal auf eine seltsame, abwesende, greisenhafte Art, starrte mit höflichem, leicht verzerrtem Lächeln in das Getobe des Festes, begann sehr plötzlich, die Stimme belegt und unsicher, und ohne den Süß anzuschauen, von seinem geräumigen Haus in Hirsau zu erzählen. Er malte den behaglichen Landsitz: Weinberge, Erntekranz, Haus und Hof wohlbestellt, dörflicher Friede; wie er dort an seinem Neuen Testament gearbeitet, in Muße, die Händel der Welt sehr ferne, verbrausend, nur ab und zu ein bißchen Schaum, man genießt ihn kennerisch; und wie zwischen alldem schlicht und still und sachlich und erfüllt seine Tochter herumgegangen sei.
Mitten in diesem Geträume, davon er mehr zu sich als zu Süß redete, verstummte er so plötzlich, wie er begonnen hatte. Er sah verfallen aus, der elegante Venezianer Mantel hing schlaff, unorganisch, wie zusammenklappende Fledermausflügel um ihn herum. Der Jude, stehend vor dem Sichpreisgebenden, hilflos, versunken Sitzenden, schaute ihn auf und ab, spöttelte mit leichter, wacher, schleierloser Stimme in sein Schweigen hinein: »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie so sentimentalisch sein könnten.« – »Nicht doch, nicht doch!« erwiderte eifrig, sich zusammenraffend, Weißensee. »Ich bin kein Deserteur am Leben, Exzellenz. Ich bin nie keiner Aventüre ausgewichen, all meine Tage nicht. Neugier war das Prinzipium, nach dem ich meine Existenz eingerichtet.« Er versuchte sein gewohntes, leichtfertiges Lächeln. »Es muß ein sehr rastloser Stern sein, unter dem ich geboren bin. Er hat mich nie stille stehen lassen, hat mich durch viele Länder und übers Meer gejagt und hat mich heißen allen KreaturenGottes und des Satans in die Töpfe gucken. Ah, meine Souvenirs!«
Aber während er sich mühte, diese Souvenirs herbeizurufen, geschah es, daß sich ihm das weiße, lächelnde Gesicht des Juden mit den gewölbten braunen Augen und den üppigen Lippen verzerrte. Es geschah, daß er plötzlich ganz genau wußte, wie wenige Schritte von ihm hinter einer versperrten Tür sein Kind sich abrang, um sich schlug, mit versagenden Kräften, aussichtslos. Er sah sie, er sah, wie die Wärme aus ihren bräunlich kühnen Wangen wich, wie die starkblauen Augen unter dem dunklen Haar sich stier und glasig verdrehten. Und in dieses Gesicht hinein hörte er die sachliche, zifferscharfe Stimme des Süß: »Wie die Dinge heute abend liegen, darf ich Ihnen Orden und Rangerhöhung mit aller Bestimmtheit in Aussicht stellen.«
Das Merkwürdige war, daß er dabei diesen Mann, der mit dem frechen und verbindlichen Lächeln vor ihm lehnte, durchaus nicht haßte. Er spielte bloß mit dem Wunsch und der Vorstellung, daß der andere so fahrig und zerrissen dasitzen möge, während er, Weißensee, lächelnd und wach vor ihm stünde. Er benahm sich dann weiterhin ganz wie immer, nur war alles, was er tat und sagte, beklemmend unwirklich, wie aus Schlaf heraus gedämpft, marionettenhaft. Er verneigte sich immerzu, höflich, freundlich, er erwiderte ein Scherzwort der Herzogin, er sprach sacht und diplomatisch mit dem Geheimrat Fichtel, er setzte auf eine abgründige und sehr feine Zote des Herrn von Riolles eine noch feinere und obszönere. Aber alle diese Stimmen klangen seltsam mechanisch und scheppernd, und die Menschen gingen puppenhaft und sehr künstlich, und
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