Judassohn
verstaute die Bücher weiter. Sie ärgerte sich über die Zweifel ihrer Geliebten, auch wenn sie wusste, dass allein Sorge der Grund war. »DerAntrieb erfolgt über Kurbeln, die wiederum Schrauben bedienen. Der Form nach gleicht das Boot einer Schildkröte oder einer Muschel. Es ist einfach: Zwei Holzhüllenhälften werden miteinander verbunden, mehr ist es nicht. Pech wird die Nähte abdichten. Darunter montiere ich den Ballasttank, und schon reise ich trocken auf die Insel.« Sie zögerte. »Irland wäre noch besser. Damit rechnet keiner aus der Cognatio, und wir sind für immer sicher!«
»Du bist … keine Erfinderin«, stieß Anjanka ungläubig aus. »Was ist, wenn das Ding zerbricht? Du wirst in den salzigen Fluten vergehen, und ich sitze allein in einem fremden Land und muss um dich trauern, wie ich um niemand zuvor getrauert habe!«
Was gäbe ich für mehr Wagemut in deinem Denken. Ich weiß, dass du genug vom Davonlaufen hast. Ich doch auch. Ein ruhiges Leben mit dir, mehr möchte ich doch nicht.
Bei allem Unmut war Sandrine doch von dem Liebesgeständnis gerührt. »Bitte, vertraue mir und rede meinen Einfall nicht klein.« Sie ließ die Bücher und nahm Anjanka in die Arme, drückte sie. »Es wird alles gut«, beschwor sie ihre Freundin leise. »Ich bringe dich in den nächsten Tagen nach Calais. Du reist mit dem Schiff nach England und von da nach Dublin. Wir sehen uns wieder.« Sie küsste Anjanka und lächelte. »Nutze die Zeit gut! Sieh es von der Seite: Du kannst viel aus den Büchern lernen und erfahren und wirst nicht ständig von mir durch Liebesspiele abgelenkt.«
Anjanka versuchte sich an einem tapferen Lächeln. »Entschuldige, dass ich es dir und mir schwermache, aber du weißt, dass ich keine Kämpferin bin. Was ich mit dir erlebt habe, sprengt alles, was ich vorher getan habe. Ich … fürchte mich so schrecklich, das Wichtigste und Wertvollste zu verlieren, das ich gefunden habe.«
Sandrine streichelte ihr hübsches Gesicht. »Ich liebe dich auch.Gerade deswegen müssen wir an einen Ort, den unsere ärgsten Feinde nicht erreichen können.«
Anjanka nickte langsam. Es fiel ihr schwer, klein beizugeben.
Eine Stunde später hatten sie das Nötigste gepackt und ihr Zuhause verlassen.
***
GESCHICHTEN
AUS DEM LEBEN
VON SANDRINE
DIE GESCHICHTE VOM
GROSSEN KURZEN GLÜCK
Frühsommer 1793,
Calais, Frankreich
Ich hoffe, der Säufer ist endlich fertig geworden.
Sandrine betrat ungehalten den Schuppen von Monsieur Charles Brieux. Er nannte es zwar gern Werkstatt oder gar Werft, aber mehr als ein paar senkrechte Bretter, die ein löch riges Dach hielten, war es nicht. Ein Bootsbauer, der kaum Aufträge bekam.
Inzwischen wusste sie auch, warum. Zum vierten Mal hatte der kurzhaarige blonde Mann, der Ende zwanzig war und seinen Tag mit einer halben Flasche Rotwein begann, sie vertröstet. Mit Bummelei gewann man keine Kunden. Damit hatte sich ihre Abfahrt aus der Hafenstadt Monat um Monat verzögert. Einen neuen Bootsbauer hatte sie jedoch nicht damit betrauen wollen. Zu viele Zeugen durfte sie nicht hinterlassen. Zu viele Morde auch nicht.
Was tue ich ihm an, wenn er wieder nicht fertig geworden ist?
»Monsieur Brieux?« Sandrine schloss das schiefe Tor hinter sich. Es stank nach Pech und Öl, das sich mit dem Geruch von frischen Holzspänen und Harz verband. Überall standen unfertige Boote herum, deren Auftraggeber abgesprungen waren. Kein einziges hatte er bislang zu Ende gebracht.
»Hier drüben«, kam seine Stimme aus dem hinteren Bereich, wo er die Esse eingerichtet hatte; dort bog er soeben eine nasse Holzlatte in Form. Er sah über die Schulter nach ihr. »Ah, MademoiselleSandrine«, sagte er dann freudig. »Haben wir schon Ende der Woche?«
Er hat es schon wieder nicht fertiggebracht! Es ist mein einziger Ausweg. Anjanka wartet auf mich, ich vergehe vor Sehnsucht und Verlangen, aber er bekommt seinen dürren Arsch nicht hoch!
»Wäre ich sonst hier?«, gab sie zurück und ließ ihn die Ungehaltenheit spüren. Es war warm, und sie zog ihr dunkelbraunes Cape aus; darunter kam das einfache weiße Kleid zum Vorschein. Das Hornschwert verbarg sie im Cape und deponierte es in ein unfertiges Bootsgerippe.
Brieux legte das Holz zur Seite und wischte sich die Hände am Lederschurz ab. »Ich höre, dass du schlechte Laune hast.«
Sandrine mochte es nicht, dass er sie so vertraut ansprach, aber der Revolution fiel unter anderem auch die Höflichkeit zum Opfer. Alle waren gleich,
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