Judassohn
sogar ihre Schmerzen vergessen ließ. Ihre Liebsten lebten! »Wer …«
»Ich bin Louis Comte de Morangiès. Mein Vorfahr wurde einst von Tanguy Guivarch getötet, und unsere Familie schwor dem Mörder Rache. Die Jahre spielten keine Rolle.« Er atmete tief ein, eine Last schien von ihm zu fallen. »Dass es Jahrhunderte dauerte,hätte wohl niemand von unserer Familie für möglich gehalten.« Er tippte an einen imaginären Hut. »Meinen Dank für Ihre Hilfe. Ohne Sie wäre es vielleicht nicht so einfach gewesen.« Zu Sias Verwunderung zielte die geschliffene Spitze jetzt auf – ihren Hals! »Leider habe ich noch eine Pflicht: Sie sind eine Judastochter und die Mutter dieser Bestie. Das habe ich inzwischen verstanden. Zwei Gründe, auch Ihnen das Leben zu nehmen. Denn ohne Sie wäre sehr vieles im Leben meiner Familie anders gekommen. Besser gekommen.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, schnitt die Klinge in ihr Fleisch.
Es krachte zweimal laut, und der Comte stieß einen lauten, dunklen Schrei aus. Aus seiner Brust qualmte es an unterschiedlichen Stellen.
Das kommt nicht von seiner Körperwärme.
Sia rutschte zur Seite, schlug das Schwert weg, das daraufhin aus den kraftlosen Fingern glitt und durch den dünnen Schnee auf das Pflaster schepperte. Ihre Energie kehrte zusehends zurück.
Der Comte bewegte tonlos die Lippen, dann brach er zusammen und fiel neben Emma nieder.
Sia sah sich nach dem Schützen um und erkannte eine breit gebaute, weiß gekleidete Männergestalt, die im Schatten auf der anderen Straßenseite verschwand. In einer Hand hielt sie eine großkalibrige Pistole, in der anderen Tanguys abgetrennten Schädel.
Das war der Typ, den ich im Krematorium gerettet habe!
Der erste Streifenwagen rollte auf sie zu, dahinter folgte eine Ambulanz.
Da sie keine Ahnung hatte, wie sie den Polizisten das alles erklären sollte, und auch keinerlei Papiere besaß, nahm sie ihre Windgestalt an und flog in die Höhe. In dieser Phase wurde sie nicht gebraucht.
Von oben verfolgte sie, wie die Sanitäter ausstiegen und sich um Elena und Emma kümmerten. Den Comte ließen sie nach kurzer Überprüfung liegen, nach Tanguys kopfloser Leiche schauten sie erst gar nicht. Hier gab es nichts mehr zu tun.
Ihr werdet meine zwei Lieben retten. Es muss euch gelingen!
Sia war erst erleichtert, als Mutter und Tochter mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurden. Dort wiederum wurde sie gebraucht. Sie konnte über ihre Kinder wachen.
10. Januar 2009, Deutschland,
Sachsen, Leipzig, 7.31 Uhr
Sia saß an Emmas Krankenbett und hielt ihre rechte Hand. Auf der anderen Seite hockte Elena, die Linke ihrer Mutter zwischen ihre Finger gebettet.
Das Beatmungsgerät arbeitete in gleichbleibendem Rhythmus, die Herzfrequenz wurde als leiser Piepton hörbar und als leuchtende, tanzende Linie auf dem Monitor sichtbar gemacht.
Die Melodie des Lebens
, dachte Sia. In diesem Fall erklang sie beruhigend monoton, ohne Aussetzer und schnelle Temposchwankungen. Doch echtes Leben konnte man ein Koma auch nicht nennen.
»Wird Mama wirklich wieder gesund?«
Sia hatte geahnt, dass Elena die Frage wieder stellen würde. »Das wird sie, Kleines«, beteuerte sie zum elften Mal. Sie hatte gezählt. »Es ist ein Heilschlaf, in dem sie liegt. Den braucht ihr Körper, um sich von den Verletzungen zu erholen.« Sie betrachtete das Mädchen, das sich extrem tapfer hielt. Eine Kämpferin.
Elena streichelte die Hand der Bewusstlosen. »Und wann wird das sein, Tante Sia?«
Es störte Sia nicht, dass Elena sie immer noch mit ihrem alten Namen ansprach, solange sie allein waren. »Das entscheidet deineMama selbst. Wir können nichts daran ändern, sondern nur abwarten.« Sie ließ die Apparate nicht aus den Augen, auch wenn sie die Anwesenheit des Todes nicht spürte. Man konnte nie wissen.
Sia blickte kurz auf die Zeitung, die auf dem Tisch lag. Die Überschrift lautete: »Amoknacht zum Jahreswechsel – Irrer tötet 56 Menschen«.
Die Polizei stand laut Artikel vor einem Rätsel und hatte sich darauf eingeschossen, es mit einem Wahnsinnigen zu tun gehabt zu haben, der fast die gesamte Einwohnerschaft des Mietshauses ausgelöscht hatte. Einen echten Grund gab es nicht. Noch wussten die Reporter nichts von der Enthauptung, dem fehlenden Schädel und dass ein Franzose mit zwei Silberkugeln durchs Herz umgebracht worden war.
Es kann noch heiß hergehen, wenn das bekannt wird.
Elena war offiziell die einzige Zeugin und hatte der Polizei gesagt, dass sie
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