Judassohn
konnte. »Was schlecht wäre, weil wir dann auf dich und deine Kunst verzichten müssten.«
Tanguy betrachtete den Jungen genauer, der aß, als wären die Menschen um ihn herum gar nicht anwesend. Er sah sie nicht an, er redete nicht mit ihnen. »Wir haben deinen Namen noch nicht vernommen, petit Seigneur.«
Ohne darauf einzugehen, langte der Gast nach dem Becher, schüttete Gurvans falschen Kaffee ins Gras und ging zum Trog, um das Gefäß auszuschwenken, ehe er sich aus der eingefassten Quelle frisches Wasser einlaufen ließ. Hastig trank er, als hätte er schon lange dursten müssen.
»Allmählich reicht es mir!«, rief Gurvan, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Dem versohle ich gleich den Hintern!«
»Sei leiser. Mag sein, dass er stumm ist.« Die Mutter gab ihren Becher an den maulenden Sohn weiter. »Wenn er nicht abgeholt wird, müssen wir ihn nach Guérande bringen. Er wird einer Jagdgesellschaft abhandengekommen sein.«
»Belohnung!«, brach es begeistert aus Pierrick hervor. »Très bien! Da lassen sich ein paar Livres machen.«
»Besser, wir liefern ihn ab, als dass der junge Seigneur in die Hände der Räuber fällt, die gerade einen Kaufmann bei Saint Nazaire überfallen haben.« Tanguy wagte es nicht, nach den Galettes zu greifen, was widersinnig war. Der Junge stellte keine Bedrohung da.
Es ist kein Moorgeist
, sagte er zu sich. Eine Legende von einem ertrunkenen Adelssohn kannte er nicht. Aber der Blick aus diesen Augen …
Der schweigsame Junge kehrte zu ihnen zurück und aß im Stehen weiter. Vier Teigfladen später stieß er ein Rülpsen aus und schaute sich um. Als er die Enten sah, machte er zwei Schritte darauf zu und nahm sich die fetteste.
»Seigneur hin oder her!« Gurvan sprang auf die Beine. »Lass sie liegen! Jag dir selbst welche!« Er machte drohende Schritte auf ihn zu.
Der Knabe fixierte den viel größeren Mann, blieb unerschrocken stehen und legte die Hand mit dem Tier auf den Rücken, während er die Lippen leicht öffnete. Sie hörten es alle: Er knurrte drohend!
Verdutzt blieb Gurvan stehen. »Was tut er da? Ist er verrückt und hält sich für einen Hund?«
»Lass ihm die Ente«, sagte Tanguy. Er würde dem seltsamen Kind die Ente nicht entreißen wollen. »Ich schieße uns eine neue. Für heute Abend sind zwei ohnehin mehr als genug. Nach
dem
Berg Galettes.« Er sah zu, wie der ungebetene und sehr unhöfliche Gast auf die Straße zurückkehrte und Kerhinet entlangschlenderte; einige Bewohner blickten ihm neugierig hinterher.
»Schaut euch den an! Der petit Seigneur geht seine eigenen Wege.« Pierrick schien fassungslos.
»Hinterher«, befahl ihnen Mariette, als der Junge um die Kurve bog und vom Schilf verschluckt wurde. »Er kennt das Moor nicht. Bringt ihn sicher nach Guérande.« Sie nahm die beiden Enten. »Wenn ihr zurückkommt, habe ich einen Schmortopf fertig.«
Die drei Brüder schnappten sich ihre Mützen und rannten los. Doch als sie um die Biegung hetzten, fehlte von dem Jungen jede Spur.
Ansatzlos frischte der Wind auf und drehte. Es roch nach Atlantik.
Die Brière wogte vor ihnen heftig, Tanguy dachte an ein sturmgepeitschtes Meer. Schilf raschelte, und Nebel stieg am helllichten Tag trotz der Böen auf; das Moor gluckerte dumpf. Ein Vogel schrie auf eine unheimliche Weise, die allen drei Gänsehaut verursachte.
Tanguy sah auf den Dunst. Er verstand es als Zeichen und alsWarnung. Als wollte eine finstere Macht verhindern, dass sie dem Besucher folgten.
»Und wenn es doch ein Geist war?«, raunte Pierrick kehlig und bekreuzigte sich. Er schien ganz ähnliche Gedanken zu hegen.
Gurvan sah nach den feinen Nebelsäulen, die sich an vielen Stellen erhoben und vom Wind wieder nach unten gedrückt wurden. »Ein Wetterumschwung«, sagte er lahm. »Lasst uns kurz nach dem Knilch suchen, danach kehren wir zurück. Wir sind schließlich nicht seine Aufpasser.«
Angespannt machten sie ein paar Schritte auf den bekannten Pfaden durch den Sumpf, aber sie hörten und sahen nichts von dem Jungen. Es war, als hätte es ihn niemals gegeben.
Das Einzige, was sie fanden, war der abgebissene Kopf der Ente und ausgerissene, blutige Federn.
»Ob er sie gefressen hat?«, flüsterte Tanguy ungewollt.
Seine Brüder schwiegen lieber.
Spätsommer 1781, Frankreich,
Süd-Bretagne, Stadt Guérande
»Hört ihr das?«, rief Tanguy aufgeregt. »Sie spielen schon!« Er rückte an seinem Hut herum, als säße er schlecht. Dabei wusste er nur vor lauter
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