Judassohn
Sie stellte die Platte auf den Menhir neben dem Eingang. Er war schon immer da gewesen, seit sich Tanguy erinnern konnte.
Pierrick verschwand und kehrte rasch zurück. Die Angst, nicht genügend abzubekommen, trieb ihn an. Dann begann das Schmausen. Während Tanguy kaute, malte er mit einem Stückchen Kohle auf eine Baumrinde. Nach wenigen Strichen entstand ein Auge. Gwenns Auge.
»Schöne Enten.« Mariette strich über das Gefieder. »Daraus lässt sich bestimmt noch was machen.«
»Ein paar Federn brauche ich für meine Pfeile«, sagte Tanguy, legte die Kohle zur Seite und rollte sich eine Galette, biss ab und trank einen Schluck Kaffee. Sein bisher wundervoller Tag klang wundervoll aus. Er sah zur Morta. »Neue Pfeifen?«, fragte er Pierrick.
Sein Bruder nickte und schluckte. »Vorrat aufgebraucht«, erklärte er undeutlich und nahm sich bereits Nachschub. »Muss trocknen.«
Gurvan lachte und schwenkte sein Galetteröllchen. »Mon dieu! Da ist jemand besonders verfressen.« Dann schaute er an ihm vorbei auf die Straße, die durch den Weiler führte. »Sieh einer an: Wir haben Besuch.«
Tanguy glaubte zuerst, es sei eine List von Gurvan, um ihn abzulenken und an mehr Galettes zu kommen, doch am Gesicht der Mutter und Pierricks erkannte er, dass wirklich jemand dort stehen musste. Also wandte er sich auch um.
Ein Junge, nicht älter als dreizehn oder vierzehn Jahre, starrte auf den Berg aus Fladenkuchen, wie es Kinder gern taten, wenn es etwas Leckeres gab und sie nicht zu fragen wagten. Auffällig war seine Kleidung. Samtene Culottes in Weinrot, ein besticktes Wams und ein weißes Rüschenhemd, Strümpfe und aufwendige Schnallenschuhe konnte sich kein normaler Arbeiter für seinen Sohn leisten. Dem Dreck an seinen Schuhen nach war er in der Brière umhergelaufen.
»Aus Kerhinet ist der nicht«, meinte Pierrick.
»Scharfsinnig, Bruder«, erwiderte Gurvan und handelte sich dafür einen Schlag auf den Oberarm ein. Lachend rieb er sich die Stelle. »Der kleine Seigneur ist seinem reichen Papa aus der Kutsche gefallen.«
Tanguy fand den Blick des Jungen merkwürdig. Das Gesicht würde ein Mädchen sicherlich als hübsch bezeichnen, woran auch das Muttermal unter dem linken Auge nichts änderte. Aber in dem Blick flackerte etwas natürlich Forderndes.
Der Bursche hat von Natur aus Mumm.
»Hat einer gesehen, woher er kam?« Mariette schaute sich um.
Gurvan schüttelte den Kopf. »Nein. Er war plötzlich da. Wie aus dem Nichts.«
»Ein Moorgeist«, prustete Pierrick los – und bekam von seiner Mutter einen leichten Klaps mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf.
»Sag so etwas nicht. Mit dem Moor macht man keine Späße!«, lautete ihre humorlose Anweisung.
Tanguy hätte beschwören können, dass der Knabe etwas Unheimliches besaß, auch wenn er es nicht zu ergründen vermochte. Die braunen Augen mit dem karamellfarbenen Ring um die Pupille verströmten Finsteres, die halblangen schwarzen Haare verliehen ihm etwas Wildes.
Widerworte kennt der kleine Seigneur vermutlich nicht.
»
Bonjour«, sagte Tanguy höflich. »Wer bist du? Was machst du in Kerhinet?«
Der Junge stierte begierig auf die Galettes.
Mariette winkte. »Komm her, mein Kleiner. Wenn du Hunger hast, kannst du ihn hier loswerden.«
Gurvan und Pierrick stöhnten auf und sahen ihren eigenen Anteil in Gefahr.
Der Junge machte ein paar zögernde Schritte vorwärts, schnupperte wie ein Tier und kam näher. Tanguy dachte an einen streunenden Hund, der gelassen die Straßen entlangtrabte.
Die kleine Hand langte nach dem obersten Teigfladen – aber Gurvan schnappte sie und hielt das Gelenk fest. »Erst sagst du uns bonjour und danach deinen Namen, petit Seigneur«, verlangte er. »Die Galettes von Maman haben ein bisschen Freundlichkeit verdient.«
Tanguys Verwunderung nahm zu, als er sah, wie der Junge den Kopf langsam zu seinem Bruder drehte und seinen zwingenden Blick auf ihn richtete. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Gurvan die Finger.
Mir hätte er das nicht durchgehen lassen!
Der Junge riss ein Stückchen vom gebackenen, honiggetränkten Fladen ab und schob ihn langsam in den Mund, als wäre ihm die Speise nicht geheuer. Nach den ersten Kaubewegungen entspannte er sich, schluckte und riss sich noch mehr ab.
»Bravo!«, rief Mariette und lächelte breiter. »Es schmeckt dir!«
»Maman, du wirst bald eine Anstellung als Köchin in einem der Schlösser bekommen.« Pierrick wartete ungeduldig, bis er sich ein neues Röllchen drehen
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