Judassohn
überlegen, der wegen seiner geringeren Körpergröße und des schmaleren Wuchses einfacher vorwärtsgelangte.
Immer wieder sah Tanguy den schwarzen Schopf zwischen den Leibern und Ständen auftauchen und verschwinden. Der Schweiß brach ihm aus und rann in kleinen Bahnen den Rücken sowie die Stirn hinab. Mehr als ein böses Schimpfwort traf ihn bei seinem Drängeln und Rempeln.
Er hatte immer geglaubt, sich in Guérande auszukennen. Wer sich im Irrgarten der Brière zurechtfand, der sollte an den verwinkelten Mauern einer Stadt nicht scheitern. Aber bald kam ihm die Umgebung fremd vor.
Der Strom der Feiernden verebbte, die Häuser wurden größer und eindrucksvoller, wandelten sich zu Villen, vor deren Türen grobschlächtige Wächter standen.
Wie wir es uns dachten: ein Kind von gutem Hause.
Tanguy sah den Jungen die Stufen eines dieser kleinen Paläste hinauflaufen. Er schätzte, dass in einer solchen Villa das ganze Dörfchen Kerhinet samt der Tiere wohnen könnte. Das herrschaftliche dreistöckige Gebäude, in dem der Knabe verschwand, fiel weniger durch seine einfache Form als durch die Buntglasfenster auf, die ihm einen kirchenähnlichen Eindruck gaben.
Vermutlich wird es selbst bei schönstem Tageslicht nicht wirklich hell im Innern.
Die beiden Männer in ungewöhnlichen schwarzen Livreen und mit kurzlockigen Weißhaarperücken auf den Köpfen unterbrachen ihr leises Gespräch. Sie verbeugten sich, und der Seigneur verschwand hinein.
Tanguy schlenderte die Straße entlang und betrachtete das Zuhause des Jungen.
Ich erzähle Pierrick und Gurvan lieber nicht, dass der Galettesvernichter in Guérande wohnt,
dachte er und blieb stehen, bevor er das Ende der Villa erreicht hatte. Er steckte die Hände in die Taschen seiner langen Hose. Culottes trugen nur Vornehme und Adlige.
Sonst sind sie imstande und sprechen vor, um sich die Verköstigung bezahlen zu lassen.
Die Szene, die auf dem Fenster vor ihm mit dem Buntglas dargestellt war, brachte ihn zum Schaudern. Ein wolfsähnliches Wesen saß auf einem Thron, zu seinen Füßen krochen nackte Menschen und wurden von weiteren Wölfen verschlungen.
Ein Teil der Hölle?
Eine oder mehrere Kerzen mussten dahinter aufgestellt sein und brachten die Figuren zum Leuchten. Die Augen des Wesens auf dem Thron glitzerten diamantengleich kalt und grausam.
Wieso lässt man sich …
Die Tür öffnete sich.
Heraus trat ein älterer Mann, der von seinem Auftreten her Respekt einflößte, ohne dass er einen Ton sagen musste. Seine Züge, seine Augen besaßen etwas Hartes.
Die Wärter verneigten sich unverzüglich und vor allem viel tiefer als vor dem Jungen. Seine Weißhaarperücke war kunstvoller, üppiger und länger als die der Aufpasser. Um den hohen Kragen des weißen Hemds schlang sich ein gebundenes schwarzes Tuch mit einer funkelnden Brosche.
Nicht mal der König könnte majestätischer wirken.
Tanguy hatte einen solchen Adligen noch niemals zu Gesicht bekommen, und er war von der Erscheinung zutiefst beeindruckt.
Der bulligere der beiden Wärter sah zu ihm und wandte sich um. Zwei Pistolen steckten im Gürtel, einen langen Knüppel hielter in der Hand. »Verschwinde. Es gibt nichts zu gaffen!« Dabei machte er eine verscheuchende Bewegung. Er hatte auf Französisch gesprochen, nicht auf Bretonisch. Der Betonung nach musste er aus dem Süden stammen.
»Keine Sorge, mon Seigneur«, rief Tanguy freundlich zurück und bemühte sich, in sauberem Französisch zu antworten. Beinahe wären ihm bretonische Worte entschlüpft, und er räusperte sich, um es zu überspielen. »Ich wollte Euch nicht belästigen. Ich ziehe meiner Wege.«
Der Seigneur, der trotz des lauen Sommerabends eine schwere bestickte Jacke in Dunkelblau und schwarze Culottes trug, lachte auf, und seine Männer stimmten ein.
Sie machen sich über mich lustig!
»Habe ich etwas Dummes gesagt, mon Seigneur?«, erkundigte Tanguy sich.
»Nein. Du
hast
etwas gesagt, mein Junge.
Das
war dumm«, kam die amüsierte Antwort des Adligen in geschliffenem Französisch.
Tanguy war klar, dass Widerworte fehl am Platz waren. Und dennoch … »Ich weiß nicht, was Ihr meint, mon Seigneur.«
»Deine Sprache, Junge. Du klingst so bemüht, zu reden wie ein Franzose, aber deine Zunge stolpert über den Engländer in dir.«
Das war eine Beleidigung, wie Tanguy fand, auf die er aber nicht angemessen reagieren durfte. »Ich bin Bretone, so wie Ihr, mon Seigneur, aus dem Süden des Landes stammt. Aber wir sind alle
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