Judassohn
Vorfreude nicht, wohin mit seinen Fingern.
Gleich werde ich Gwenn wiedersehen!
Er trug wie seine Brüder die Tracht der Bretagne mit weißem Hemd und dunklen Hosen.
Pierrick hatte seinen Binioù Kozh, den Dudelsack, dabei, Gurvan brachte die Bombarde mit zum Salzfest. Sie waren gute Musiker, die gerne in den Tavernen und in den Straßen zum Tanz aufspielten oder zum Singen aufforderten. Geld mussten sie gar keins verlangen, die Feiernden gaben es den Brüdern freiwillig.
Vor ihnen hoben sich die viele hundert Jahre alten Stadtmauern von Guérande ab, die von weitem über all die modernen Gebäude in ihrem Inneren hinwegtrogen. Die Stadt bildete den gewachsenen Mittelpunkt der Region. Das Salzherz. Tanguy kannte die weitläufigen Salzfelder zwischen Stadt und Atlantik, auf denen das Meerwasser stand und mit denen das kostbare Mineral sowie das seltene und teure
fleur de sel
gewonnen wurden. Sie waren auf dem Hinweg an etlichen der kleinen, flachen Weiher vorbeigekommen.
Tanguy fand, dass es eine Nacht zum Feiern war. Die Stadt hieß alle willkommen: Die Steine waren von Fackeln und Laternen einladend beleuchtet, die Tore standen weit wie zu einer Umarmung offen. Die Menschen strömten noch immer hinein, um auf den Plätzen und Flecken zu feiern. Zu gern wäre er bereits dort!
Bei ihr …
»Wir kommen schon noch rechtzeitig«, sagte Mariette mit einem wissenden Lächeln. Sie hatte das schwarze Kleid mit der weißen Spitzenschürze und der gewaltigen weißen Haube angelegt, wie sie es jedes Jahr tat. »Du wirst bald mit ihr tanzen können.«
»Ja, das kann er. Wenn du auch noch ein Instrument gelernt hättest, wären wir unschlagbar«, gab Pierrick zurück. »Dann machen wir mal auf uns aufmerksam!« Er pumpte den Dudelsack auf. Das leise Quäken der Bordunpfeifen ertönte. Er setzte die Lippen an das Mundstück und spielte los, Pierrick stimmte mit ein.
Bald gesellten sich Reisende hinzu, und sie zogen singend und klatschend durch das Stadttor ein. Die Ausgelassenheit war zu ansteckend.
Guérande platzte aus allen Nähten, die Mauern schienen die vielen Menschen nicht in sich fassen zu können. Die Arbeiter und Salzbauern hatten sich versammelt, um den vorläufigen Höhepunkt der Ernte zu feiern.
Tanguy staunte, obwohl er das Fest nicht zum ersten Mal erlebte. Der Duft von Gebratenem und Gesottenem ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Die ersten Lieder drangen an ihre Ohren, zu denen in langen Menschenketten getanzt wurde. Jeder, der wollte, konnte sich einfach anhängen und mitmachen. Schon sah Tanguy einen ersten solchen Tanzwurm mit Gliedern aus Menschen, der sich durch das Getümmel wand, lang und länger wurde.
Gurvan und Pierrick legten zum Abschluss ihres Spiels einen fulminanten Fingerlauf hin, dann setzten sie strahlend die Ins trumente ab und bekamen reichlich Applaus. Es gab Schulterklopfen, Küsschen und auch ein paar kleine Münzen als Lohn.
»Wo treffen wir uns mit den Martins?«, wollte Mariette wissen.
Tanguy deutete die kleine Gasse zur Rechten entlang, in der nicht ganz so viele Feiernde unterwegs waren. »Da hinein und dann zum Südtor. Da gibt es eine kleine Kneipe mit gutem Wein aus dem Bordeaux. Achtet auf eure Börsen. Die Menge bietet Dieben hervorragenden Schutz.« Er übernahm die Führung; seine Brüder flankierten die Mutter, um sie gegen die schlimmsten Drängler und Langfinger zu beschützen.
Tanguy ging voraus und winkte seiner Familie immer wieder, damit sie ihn nicht aus den Augen verlor. Als er sich nach vorne drehte, sah er plötzlich den Jungen, der ihnen die Galettes weggegessen hatte und tote Enten anscheinend roh zu verspeisen pflegte. Er trug die gleichen, dieses Mal sauberen Sachen wie bei ihrer ersten Begegnung und bog eben um eine Ecke.
Also doch kein Moorgeist.
Jetzt wollte er wissen, woher der merkwürdige, unheimliche Knabe stammte.
Er wandte sich wieder seinen Geschwistern zu. »Geht die Straße hoch, dann nach links«, brüllte er über die Köpfe derMenschen hinweg. »Die Kneipe heißt
Pour l’âme
. Ich komme nach!« Und schon beschleunigte er seine Schritte, um den Anschluss an den Jungen nicht zu verlieren.
Einmal entwischen genügt.
Eine wilde, anstrengende Hatz entspann sich in den übervölkerten Gassen.
Für Tanguy war es, als renne er durch dichtes Unterholz. Er musste sich verbiegen, zwischen den Menschen hindurchwinden, er blieb mit seiner Jacke hängen, verlor mehrmals beinahe seinen Hut. In diesem Terrain war ihm der Junge klar
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