Judassohn
jemand fragen. Höre ich anderes, komme ich nach Kerhinet.« Die graugrünen Augen blickten kalt und grausam. Keine noch so wortreiche Drohung hätte besser wirken können.
Umständlich erhob sich der Wärter und ächzte dabei, ergriff seinen Prügel und verbeugte sich in Richtung seines Herrn. Blut lief aus einer offenen Platzwunde auf der Wange und tropfte auf den Kragen.
Tanguy spürte, dass sein erstes Empfinden richtig gewesen war: Den Knaben aus Südfrankreich umgab ein Geheimnis. Er nickte und legte die rechte Hand auf den pochenden, schmerzenden Bauch.
De Morganiès wandte sich zum Eingang. »Damit du noch einen weiteren Anreiz hast, sowohl zu schweigen als auch zu leugnen, Guivarch, wirst du nun zusammengeschlagen werden. Merke dir die Qualen genau. Denn was
ich
mit dir mache, sollte ich in deinen Weiler reiten müssen, wird zehnmal mehr schmerzen, bevor du nichts mehr spüren wirst.« Er verschwand ins Haus.
Zehn Minuten danach lag Tanguy blutend in der Gosse. Jemand drückte ihm das Geld zwischen die Finger. Die Männer entfernten sich.
Verflucht sollt ihr sein! Ihr alle!
Warm liefen ihm Rotz und Blut aus der Nase, er hustete undspuckte einen Backenzahn aus. Unbehende kroch er auf allen vieren bis zur nächsten Mauer und zog sich daran hoch. Alles drehte sich um ihm.
Ich werde dich nicht vergessen, Comte de Morangiès,
versprach er stumm und taumelte vorwärts, tiefer in die Gassen und zurück in den Teil von Guérande, in dem sich das normale Volk aufhielt. An einem Brunnen wusch er sich einhändig das Blut aus dem Gesicht.
Nein, vergessen kann ich das nicht!
Er steckte das Geld sein, das ausreichte, um sich einen neuen Anzug zu kaufen. Die Jacke war verdreckt, Hemd und Hose voller Blut und eingerissen; den Hut hatten sie weggeworfen.
So bekommt man also Gastfreundschaft entlohnt. Wenn ich deinen verzogenen Enkel das nächste Mal sehe, wird er sich danach lange an mich erinnern.
Er wusch sich, so gut es ging, und versuchte, die schlimmsten Flecken aus dem Hemd zu entfernen.
Und du, Comte, kannst mir einmal in einer dunklen Gasse alleine begegnen.
An vielen Stellen durchnässt und mit einer gewaltigen Portion Wut auf den Adligen im Bauch machte er sich auf, seine Familie und Gwenn zu treffen.
Er kehrte in das Viertel von Guérande zurück, das seinesgleichen gehörte. Die Musik war von weitem hörbar, die ersten Feiernden erschienen auf den Gassen vor ihm. Doch noch konnten sie ihn mit ihrer Ausgelassenheit nicht anstecken. Sein Groll wurde nicht weniger. Die Schmach und die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren waren, verlangten schließlich nach Alkohol. Unterwegs kaufte Tanguy sich einen Weinschlauch an einem der Stände und trank ordentlich daraus, um die schlechten Gedanken zu vertreiben.
Er hatte den Mittelpunkt des Festes bald erreicht. Die laute Musik, die Fröhlichkeit und vor allem der Alkohol taten ihrÜbriges dazu, ihn die sinnlose Wut langsam vergessen zu lassen sowie die Schmerzen erträglicher zu machen. »Gwenn«, schwärmte er vor sich hin und betastete seine rechte Wange. Sie schwoll leicht an.
Küssen kann ich heute vergessen.
Endlich erreichte er das
Pour l’âme,
wo er von weitem mit großem Hallo und von nahem mit erschrockenen Rufen begrüßt wurde.
»Eine Rauferei. Ich musste die Ehre meiner Zukünftigen verteidigen«, sagte Tanguy ausweichend und setzte sich neben Gwenn, die ihn anstrahlte.
»Mein Held«, sprach Gwenn und gab ihm unter dem Beifall der beiden Familien einen sanften Kuss, der die Qualen davonzauberte.
Morgen war Zeit für die ganze Wahrheit, aber in den nächsten Stunden wollte er den Comte vergessen.
***
KAPITEL II
Spätsommer 1781, Frankreich,
Süd-Bretagne, Stadt Guérande
Etwas Außergewöhnliches sollte in dieser Nacht geschehen. Belanglos und doch niemals da gewesen: Die Familie Guivarch würde
nicht
in ihrem kleinen Häuschen in Kerhinet schlafen. Sie nahm die Einladung von Gwenns Eltern an und wollte nach dem Salzfest bei den Martins unterkommen. Besonders Mariette hatte es eine große Überwindung gekostet, nicht in den Weiler zurückzukehren und das ungeplante Angebot anzunehmen. Doch die Familien verstanden sich sehr gut, wie der Abend im
Pour l’âme
bewies.
»Schau nur«, flüsterte Gwenn Tanguy ins Ohr. »Wie sie sich unterhalten. Über Gott und die Welt.«
»Ich freue mich, dass sie gut miteinander auskommen.« Aber er bedauerte, dass sie den zweifach anwesenden elterlichen Augen und Ohren nicht entkommen konnten, um
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