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Judassohn

Titel: Judassohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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senkte sich unter seinem rechten Stiefel ab, sein Fuß tunkte in das schwarzbraune Wasser, doch mehr geschah nicht. Eilig folgte er dem Geruch, der ihn zu seinem Mahl hinzog.
    Seine Augen mochten die Nacht, er sah sogar besser als am Tag. Die Geräusche klangen hell, klar und deutlich für ihn. Er bemerkte jede noch so kleine Besonderheit und Abweichung vom Üblichen und zog seine Schlüsse daraus. Lange bevor er es sah, wusste er, was sich im Schilf vor ihm versteckte. Wildente, Reiher, Kuh, Mensch, Schaf, Pferd, Maus, jedes laute und leise Rascheln, jeden Ton vermochte er zuzuordnen. Das Moor war sein Reich.
    Habe ich sie?
    Autre blieb stehen, die Arme leicht vom sehnigen Körper abgespreizt, lauschte und witterte.
    Das leise Gluckern verriet ihm, dass eine Pigouille ins Wasser eingetaucht wurde; das darauffolgende Plätschern war die schwache Bugwelle, die die Barke vor sich herschob. Sie schwappte ins Schilf hinein und ließ die geschlossenen Seerosen tanzen. Das Pech, mit dem der Rumpf eingepinselt war, stank.
    Ein breites Grinsen entstand auf seinem Gesicht. Der schwache Hauch von Fisch wehte zu ihm herüber. Ein Angler kehrte spät von seinem Streifzug zurück. Er sog die Luft nochmals ein.
    Nein. Ein Aalfänger ist es.
    Er hatte schon mehrmals Pferdeköpfe im morastigen Wasser gefunden, mit denen die Menschen die schlangenhaften Fische in die Falle locken wollten.
    Aalblut.
    Er verzog das Gesicht. Es schmeckte furchtbar und hatte ihm Übelkeit beschert. Aale eigneten sich im Gegensatz zu anderen Fischen, die er mit bloßer Hand fing, nicht zum Trinken.
    Ein schwaches, pendelndes Leuchten näherte sich. Der Kahn glitt an ihm vorbei, der Fischer stakte im Schein einer Petroleumlampe und schien es eilig zu haben.
    Durch das Licht wurde die Welt so hell, als stünde die Sonne senkrecht am Himmel.
    Endlich! Da kommt mein Mahl.
    Autre drückte sich vom Boden ab und warf sich durch die Halme hindurch gegen den jungen Mann.
    Sie gingen beide über Bord und tauchten ins Wasser ein.
    Auch unterhalb der Oberfläche sah er halbwegs gut und hundertfach besser als der Mensch; der schaukelnde Schein der Petroleumlampe reichte ihm aus. Er erfreute sich am verzweifelten Gesicht des Fischers, den er am Bein festhielt. Der Mann trat und schlug um sich, wusste nicht, wie ihm geschah.
    Los! Versuche, mir zu entkommen.
Er ließ von ihm ab, und sein Opfer schnellte wie ein Korken in die Höhe und durchbrach die Fluten. Natürlich nahm er die Verfolgung auf.
    Sosehr ihn die toten Augen seiner gerissenen Opfer störten, so viel Vergnügen bereitete ihm die vorhergehende Jagd. Er benahm sich wie eine Katze, wollte sie leiden sehen. Autre mochte es, mit der Hoffnung und der Verzweiflung der Beute zu spielen, auch wenn eine dünne, mahnende Stimme in ihm ertönte.
    Der Fischer rang lauthals nach Luft, hustete das Wasser aus. »Lass ab von mir, Riese!«, schrie er und paddelte verzweifelt, um zu seiner Barke zu gelangen. »Du hast vergessen, nach mir zu rufen! Halte dich an diese Regel!«
    Das hörte er schon zum zweiten Mal. Ein anderer Mann hatte ihn auch für den Riesen gehalten. »Es gibt keine Riesen im Sumpf«, antwortete er und packte ihn im Nacken. Unter seinen Füßen spürte er Grund, und er schleifte sein Opfer aus dem Kanal auf eines der schwankenden Moospolster. »Glaub mir, ich kenne jede Handbreit des Moors. Er wäre mir begegnet.«
    Der Fischer hustete und glotzte ihn an. Hinter ihm trieb sein Boot mit dem Licht davon. »Du bist … ein Mensch?«
    »Nein.« Die Wärme, die von dem Mahl ausging, lockte Autre. Er hörte den schnellen Herzschlag, der kräftiges Leben verhieß, sah das Pulsieren der Halsschlagader. Seine Fangzähne wuchsen und stießen von innen gegen die Lippen, Speichel floss. »Nein, wahrlich nicht.«
    Das Verlangen und der Durst waren überwältigend.
    Er öffnete den Mund weit und packte den Mann an seiner Jacke. Die scharfen Spitzen bohrten sich leicht durch die Haut, als bestünde sie aus Papier, das Fleisch darunter aus weichem Brei. Sehnen und Muskeln dehnten sich und rissen gleich dünnen Spinnenfäden.
    Er spuckte den Fleischbrocken zur Seite, weil er ihn beim Schlucken störte, und sog alles Blut aus dem zappelnden Mann.
    Er windet sich wie einer seiner Aale.
    Aus Angst, die Augen des Sterbenden könnten ihn doch anschauen, stach er sie hastig mit dem Mittel- und Zeigefinger der freien Hand aus; die scharfen, krallenhaften Nägel zerschnitten sie. Pralle Trauben, die nach wenig Widerstand platzten

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