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Judassohn

Titel: Judassohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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sich bedächtig auf. Sie betrachtete ihn eindringlich und erkannte unter den vielen Haaren und der dunklen Kruste die Züge ihres Enkels. »Du bist Tanguy Guivarch.«
    Er blieb stehen und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Nein, bin ich nicht. Bin ich nicht!« Er legte den Kopf schräg und klopfte sich dagegen. »Er ist nicht da. Tanguy ist fort, denke ich. Ich soll auf ihn warten.« Er hatte etwas auf der Erde entdeckt. Schnell bückte er sich, hob einen hellgrünen Flakon auf und hielt ihn gegen den Himmel. »Wie schön!«, flötete er. »Schau nur, wie schön er ist. Vom Himmel gefallen, der arme Stern!« Er holte aus und warf den Flakon senkrecht in die Luft. »Flieg zu den Deinen, kleiner Stern! Bleib und flirre und flimmere für mich!«
    Sie war sich nicht sicher, ob er ihr eine Komödie vorspielte.
    Warum sollte er den Verstand jetzt erst verloren haben? Albert hätte dieses verrückte Verhalten erwähnt.
    Klirrend schlug der Flakon irgendwo in der Ruine auf. Tanguy ignorierte es. Für ihn schien der Stern, den er unverändert in den höchsten Tönen pries, als wäre er eine Geliebte, an den Himmel zurückgekehrt zu sein.
    Charlotte wirbelte den Dolch spielerisch in der Hand. Eine Angewohnheit. »Hat der Riese sein Haus angesteckt?«
    Tanguy unterbrach seine Ode an den geretteten Stern. »Der Riese kommt wieder.«
    »Der Riese«, sie zeigte mit dem Dolch auf die geschwärzten Knochen, »ist verbrannt, Tanguy. Hast du ihn umgebracht?«
    Und was hat er dir angetan, dass du verrückt geworden bist?
    Er sackte mit einem Wimmern zusammen und setzte sich mitten ins Durcheinander. Seine Finger spielten mit Trümmerstücken, warfen sie weg, holten sich neue. Die Schnittwunden,die er sich dabei zuzog, verheilten sogleich. »Ja. Aber nur, weil er mich töten wollte.«
    Charlotte glaubte ihm nicht. »Was hat er mit den ganzen Sachen gemacht?«
    »Ein Alchimist, ein Hexer und …«, Tanguy prustete kindhaft, »… ein Blutsauger. Ein Vampir.« Er zeigte um sich herum. »Da, das alles hat er aufgebaut. Tische voll mit Apparaturen, die von morgens bis abends blubberten und zischten und stanken, bis …« Er riss die Arme nach oben. »Puff hat es gemacht. Puff! Alles ist verbrannt und explodiert wie in einem Feuerwerk.« Tanguy schob seine zerschlissene Kleidung über dem Bauch zur Seite und wies ihr seine makellose, bleiche Haut. »Mich haben die Splitter und Kügelchen überall getroffen. Hat mir aber nichts ausgemacht.« Er entdeckte eine gelbe Glasscherbe am Boden. »Oh! Noch ein Stern!« Er hob ihn an, schnitt sich dabei aufs übelste. Die Wunden schlossen sich.
    Er ist stark, wie es aussieht. Er heilt schnell.
    Charlotte ging langsam auf ihn zu; dabei schob sie mit den Füßen Holzreste in die Feuerchen, an denen sie vorüberkam, und fachte sie neu an. Darin würde sie Tanguy verbrennen, damit er nicht zurückkehrte. Er würde dem Riesen ins Jenseits folgen.
    Der arme Junge. Durch mein Versäumnis muss er ein zweites Mal sterben.
    Sie fühlte Mitleid wie selten bei den Nachfahren, die sie hatte umbringen müssen. Ein besonders tragischer Fall, der Schonung verdient hätte. Aber sie konnte den Verrückten nicht aufnehmen und erziehen. Die Flammen schlugen höher und beleuchteten Tanguy, der ein Lied über die Scherbe angestimmt hatte und deren Farbe pries. Die braunen Augen glommen im Wahn, den sie sich noch immer nicht zu erklären wusste.
    Denk nicht dran. Du kannst ihn nicht retten. Der Tod wird seine Erlösung sein.
    »Sag, hatte der Riese rote Haare?«
    Tanguy warf ihr einen anklagenden Blick zu. »Du hast mich schon wieder in meinem Gesang gestört!« Er zeigte auf das Glasstück. »Das gefällt meinem Stern nicht.«
    »Hatte er rote Haare oder nicht?«, wiederholte sie. »Hast du seine Fangzähne gesehen?«
    »Er war nicht wie ich. Ein Riese mit kleinen Zähnen. Und schwarzen Haaren.« Er fuhr sich durch den dreckigen Schopf. »Kupfer auf dem Dach, sagen die Kinder oft zu mir, bevor ich sie trinke. Und ich trinke schnell.«
    »Ich weiß, Tanguy.« Charlotte seufzte und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.
    Der Riese hat wohl nicht zu den Judaskindern gehört. Demnach ein anderer Blutsauger, der auch nach Unvergänglichkeit trachtete. Mag sein. Sie wissen schon lange, dass sie nicht unsterblich sind.
    Sie verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an den unbekannten Vampir. Der Riese der Brière war tot. Und genau das musste auch mit ihrem Enkel geschehen.
    Charlotte sah es als ihre Verantwortung den

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