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Judassohn

Titel: Judassohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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entlanggefahren.
    Angst spürte die Frau inmitten des hohen Schilfs nicht, denn sie war vorbereitet.
    Gegen mögliche Werwölfe führte sie einen silbernen Dolch mit sich, gegen Verbrecher einen exzellent gearbeiteten Dolch von außergewöhnlicher Schärfe, auf dessen Pommel drei gekreuzte Dolchpaare eingraviert waren: eins oben, zwei darunter. Ein Erbstück.
    Charlotte machte sich schwere Vorwürfe, weil sie nachlässig gewesen war: Sie hatte die Guivarchs aus den Augen gelassen, weil sie sich zu sehr um einen anderen ihrer Nachkommen gekümmert hatte.
    Unverzeihlich. Ein ganzer Weiler ausgelöscht. Wer weiß, wie viele Morde er noch begangen hat. Ich muss in den kommenden Wochen achtgeben, ob einige seiner Opfer sich ebenfalls zu Vampiren gewandelt haben.
    Mit viel Glück hatte sich der Fluch nur auf Tanguy ausgewirkt.
    Wölfe
, dachte sie an die Erzählungen und rollte mit den Augen. Doch es war gut, dass die Wahrheit verborgen blieb. Es ging in der Tat eine Bestie um, aber sie hörte auf den Namen Tanguy Guivarch.
    Schlimmer als jeder Wolf.
    Eine Rohrdommel sang für sie und schien ihre schweren Gedanken vertreiben zu wollen. Es gelang dem Vogel nicht; auch das beruhigende Rauschen des Schilfmeers konnte Charlotte nicht beschwichtigen.
    Sie war sich sicher, das Versteck ihres Enkels ausfindig gemacht zu haben. Die Morde im Guérande folgten einem für sie bekannten Muster: Ein Kind des Judas war erwacht und wusste nicht, wie ihm geschehen war. Also zog es mordend durch die Gegend, nahm sich fremdes Blut und fremdes Leben, um eigene Kraft zu erhalten. Ohne Rücksicht auf Mensch, Tier, Hab und Gut.
    Ich kenne es zu gut.
    Auch wenn Tanguy in den Momenten des Dursts und der Raserei wirklich nicht mehr Verstand besaß als ein Raubtier, zeigte er sich ansonsten erstaunlich schlau. Er hatte seinen Großvater aufgesucht, um seine Vergangenheit und seinen Fluch zu ergründen. Damit fiel er aus dem Rahmen dessen, was sie von Judaskindern kannte. Ohne Beistand wurden nicht wenige vom Wahnsinn ereilt.
    Ich bin mir sicher, dass er Hilfe bekommen hat. Und das war nicht gut.
    Sie steuerte die Barke durch den Kanal und gelangte in morastiges,zähschlammiges Gebiet. Der flache Kahn bewegte sich nicht mehr weiter. Der unüberwindbare Streifen zog sich gut und gern einhundert Schritte hin; im Anschluss schob sich eine Wand aus vier Meter hohen Schilfstengeln in den Weg.
    Wie Burggraben und Wall. Da möchte jemand ungestört und ungesehen bleiben.
    Sie begab sich an den Bug des festgefahrenen Gefährts und prüfte den Untergrund mit der Pigouille. Der Stab drückte sich durch und sank und sank und sank …
    Ihre von den Jahren in der Brière geschulten Blicke fanden rasch heraus, welche Stellen ungefährlicher waren. Wenn sie auf ihnen wie auf Trittsteinen hüpfen würde, konnte sie bis zum Schilfgürtel gelangen.
    Charlotte zog das störende lange Kleid aus, unter dem sie leichte weiße Unterwäsche trug. Die langen braunen Haare fasste sie mit einem Lederband zu einem Pferdeschwanz zusammen.
    Besser.
    Sie machte den ersten Sprung und drückte sich gleich wieder ab. Der Boden gab unter ihr nach, aber ihr geringes Gewicht verhinderte, dass sie einsank. Schneller und einfacher, als sie es selbst erwartet hatte, erreichte sie die Halme und katapultierte sich mitten hinein. Die Stiefelsohlen landeten auf sicherem Untergrund.
    Das lief gut.
    Es kostete Charlotte Kraft, sich durch den dünnhalmigen, dichten Wald zu bewegen. Hart und fest, als wären Eisenstückchen in den Röhren eingelassen, bot das Schilf Widerstand. Nicht nur das. Die Bewegungen der zitternden Stengel verrieten, dass sie sich dem Versteck näherte und wo sie sich befand.
    Charlotte scherte sich nicht darum.
    Nach vielen, vielen Schritten endete der Wall.
    Sie trat heraus und vor die Reste eines großen Hauses, von dem nur noch die Grundmauern und der angebaute Stall standen.Das Gebälk war überwiegend eingestürzt, der Qualm drang aus der Mitte der Ruine und kräuselte sich empor; seine Farbe hatte sich wirklich geändert und leuchtete, als tanzten Hunderte Glühwürmchen darin.
    Ich bin am richtigen Ort.
    Charlotte ging weiter, die drei ausgetretenen Stufen hinauf zum offenen Eingang. Von der Tür waren nur noch die Angeln übrig geblieben.
    Vorsichtig sah sie hinein.
    Der Anblick kam ihr bekannt vor, auch wenn sie alchimistische Labore wesentlich aufgeräumter kannte. Brand und Regenschauer hatten zwar Verwüstung angerichtet, aber ihr genügte der Eindruck, um zu

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