Judassohn
einfachen und nichtsahnenden Menschen gegenüber. Im Westen war ihr Dienst sogar bedeutsamer als im Osten, wo man wenigstens um die Gefährlichkeit der Blutsauger wusste und Mittel zur Verteidigung kannte.
Die Flammen in den Kuhlen brannten inzwischen hoch. Sie hatten durch das mit Chemikalien getränkte Holz neue Nahrung erhalten und züngelten, verlangten nach mehr.
Das sollt ihr bekommen.
Charlotte streckte die Hand aus. »Ich muss nun gehen, Tanguy. Bekomme ich noch einen Abschiedskuss von dir?« Sie neigte den Kopf, so dass der Pferdeschwanz zur Seite rutschte und sein Blick auf ihre Halsschlagader fallen musste.
Gier stand unverzüglich in seinem Gesicht geschrieben. »EinenKuss«, trällerte er und erhob sich. »Den sollst du bekommen, meine Schöne!« Tanguy deutete auf den Dolch. »Was willst du denn damit?«
»Mich schützen. Vor Räubern und Mördern.« Charlotte steckte ihn in die Gürtelhalterung auf dem Rücken. »Fürchte dich nicht. Du gehörst nicht zu ihnen. Du willst mir nichts Böses.« Sie neigte den Kopf noch weiter.
»So ist es!« Er machte einen langen Schritt und stand direkt vor ihr. Er stank nach altem Sumpf und Schmutz. »Es wird wahrlich ein Abschiedskuss.« Tanguy roch an ihrem schlanken Hals – und zögerte. »Was … ist mit dir?« Er blickte in ihre dunkelgrauen Augen. »Du …« Er schnupperte. »Wir kennen uns! Von früher … als Tanguy noch lebte.« Er rieb sich über den rechten Arm.
Er wittert, dass wir verwandt sind.
Sie sah das Zeichen auf seiner Haut, das Feuermal, das auch sie von Geburt an besaß.
Was ist das?
Sie packte das Handgelenk und drehte den Arm so, dass die Flammen die Stelle besser beleuchteten. Das rote Mal wurde von schlangenhaften schwarzen Linien umschlossen und durchkreuzt, als wäre versucht worden, es unschädlich zu machen.
Oder ein neues Symbol daraus zu formen.
»Ist das eine Tätowierung? Wer hat sie gemacht? Der Riese?«
»Niemand. Sie kam von selbst«, antwortete er gereizt und befreite sich mit einem Ruck. Der Zeigefinger richtete sich auf die Gebeine. »Als er gestorben ist. Er wollte, dass ich auch sterbe, und hat mich verflucht. Aber es ist nicht gelungen!«
Charlotte begriff nun, warum es sich mit Tanguys Verstand zum Schlechten gewandelt hatte.
Doch. Es ist ihm gelungen, bedauernswerter Tanguy. Welcher Sorte Vampir er auch immer angehört hat.
»Nicht so wichtig, mein Lieber«, sagte sie und gab ihrer Stimmeetwas Beruhigendes; dabei zog sie den Halsausschnitt des Unterhemds zurück, zeigte ihr rechtes Schlüsselbein. »Gib mir nun deinen Abschiedskuss.«
Aber Tanguy schien von ihrem ähnlichen Geruch zu verwirrt zu sein.
»Nein … nein«, flüsterte er. »Nein, ich sage dir nicht Lebewohl.« Die Gier war noch immer da, doch die Unsicherheit hatte überhandgenommen. Er machte drei, vier schnelle Schritte rückwärts. »Du bist nicht gut! Ich sehe es an deinen kalten Augen! Du bist nicht gut für mich!« Er fauchte sie an, die Fangzähne schoben sich hervor. »Geh!«
Charlotte lächelte, zog erst einen Dolch. Sie kannte das Spiel, auch wenn es ihr kein Vergnügen bereitete. Keiner ihrer Nachfahren hatte sich freiwillig töten lassen. »Nein, Tanguy. Wir nehmen Abschied. Auf der Stelle. Auch ohne Kuss.« Während sie die zweite Klinge zückte, griff sie ihn an.
Er schnappte blitzschnell nach einer lange Holzlatte, die aus der Mauer ragte, und drosch sie ihr ebenso unvermittelt wie hart quer ins Gesicht.
Charlotte musste einen Schritt zur Seite machen, aber gefährlich war die Attacke für sie nicht gewesen.
Ich darf ihn nicht unterschätzen.
Tanguy sprang in die Höhe, um auf der Außenmauer zu landen; lose Steine fielen herab. Er hob flehend die Arme. »Wind, Wind! Komm und mache mich durchscheinend wie Nebel! Trage mich fort!«
Charlotte folgte ihm auf die Mauerkrone, lief auf ihn zu.
»Ja, so ist es gut! Fang mich doch!« Tanguy brach unvermittelt in Gelächter aus und ließ sich wieder in die Ruine fallen, mitten in einen großen Aschehaufen; eine schwarzgraue Staubwolke schoss empor, in der er verschwand.
Er spielt mit mir. Dieser Verrückte.
Sie sprang auf den Boden zurück, die Dolche zum Stoß erhoben.Sie hörte ihn, roch ihn und attackierte ihn durch den wirbelnden Staub hindurch.
Klirrend traf die erste Schneide auf Widerstand.
Charlotte sah Tanguy vor sich, der ihren Angriff mit einem langen Schwert pariert hatte und es über den Kopf schwang, um sie damit in Stücke zu schlagen. Es musste in dem Haufen
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