Judastöchter
Anklage zu verstärken. »Es steht mir nicht zu, Sie so zu nennen, Frau Karkow, aber wenn es nach mir ginge, wäre Ihnen eine Anzeige wegen Verletzung der Aufsichtspflicht sicher. Ihnen und der Mutter der Freundin.« Das war Richtspruch und Verurteilung genug.
Der andere Kollege kam nochmals herein, dieses Mal mit ernstem Gesicht, legte eine Mitteilung auf den Tisch, pochte mit dem
Zeigefinger darauf und ging wieder.
Sia war sich sicher, dass es der Ausdruck ihres mitgeschnittenen Anrufs von der Telefonzelle aus war. »Oh, Sie haben sie schon gefunden?«
»Nein, Frau Karkow.« Kantor räusperte sich und wusste nicht, wie er mit der veränderten Lage umgehen sollte. »Wir haben eine anonyme Zeugin, die beobachtet haben will, wie ein Mädchen am Völkerschlachtdenkmal quasi entführt worden ist.«
»Oh, mein Gott!«, stieß sie aus und täuschte mütterliche Bestürzung vor.
Jetzt kommt mal auf Trab, Freunde und Helfer.
Kantor wurde nun aktiver und gab der Zentrale über Telefon Anweisung, noch zwei weitere Streifenwagen auszusenden und einen Kollegen von der Spurensicherung hinterherzuschicken.
»Das ist …« Sia gab sich aufgelöst, und die eigene Beunruhigung erleichterte ihr diese schauspielerische Aufgabe. Sie machte sich wirklich große Sorgen und hasste den Umstand, nicht selbst etwas Sinnvolles tun zu können. »Wer weiß, was sie mit ihr vorhaben!«
»Beruhigen Sie sich, Frau Karkow. Es ist nicht sicher, ob es Ihre Tochter ist«, sagte Kantor nicht mehr ganz so anklagend. »Fahren Sie nach Hause, Ihre Nummer habe ich ja. Sobald wir mehr wissen, rufen ich oder einer meiner Kollegen Sie an.«
»Soll ich nicht mitkommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wir suchen die kleine Elena mit allen Kräften und schreiben sie zur Fahndung aus.«
Sia war zufrieden, auch wenn sich ihr eigenes schlechtes Gewissen und die Anspannung nicht legten. »Danke.« Sie nickte, stand auf und verließ das Polizeigebäude.
Was mache ich jetzt?
Sie stieg auf den Sattel des Motorrads, ohne die Hayabusa anzuwerfen, und grübelte.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, stellte sich wieder ein.
Da es keine Spuren zu verfolgen gab, blieb ihr nur die Möglichkeit herauszufinden, ob und wer sich an ihre Reifen geheftet hatte.
Dann mache ich mich eben zum Lockvogel.
Das kraftvolle Rennmotorrad erwachte durch eine kleine Fingerbewegung zum Leben.
Sia gab Gas und lenkte die Maschine weg von der Polizei, quer durch die Innenstadt nach Osten, und wählte Seitenstraßen, um besser erkennen zu können, ob sie einen Schatten hatte.
Sie musste lange fahren und genau aufpassen.
Zunächst brachte es nichts, bis ihr ein schwarzer BMW X6 auffiel: ein bullig-schnittiger Pseudo-Geländewagen, mit vielen Spoilern, die dezent angebracht waren. Sia hatte ihn nur bemerkt, weil vor ihm drei Kompaktautos fuhren, über die er herausragte. Er wurde so plötzlich sichtbar, als hätte er seine Tarnkappe deaktiviert.
Bist du mein Schatten?
Sia fuhr nun zügiger, vollführte zwei schnelle Schlenker und nutzte einige Querstraßen, dann gab es für sie keinen Zweifel mehr: Der X6 begleitete sie. Auch wenn sich der Fahrer sehr viel Mühe gab und sogar parkende Autos als Schutz benutzte. Die Scheiben waren getönt, sie konnte nicht erkennen, wer am Steuer saß.
Hab ich dich!
Sia fuhr vorschriftsmäßige fünfzig Stundenkilometer und sah im Rückspiegel auf das Kennzeichen.
Ein Leipziger?
Nachdem sie ihren Verfolger erkannt hatte, wollte sie ihn stellen und ein paar Worte mit ihm wechseln. Unter vier Augen. Abseits der Öffentlichkeit.
Sie hielt an, drehte den Kopf nach hinten, sah zum X6, damit der Fahrer verstand, dass sie ihn bemerkt hatte. Langsam nahm sie die Sonnenbrille, die einer verspiegelten Schweißerbrille ähnelte, wieder aus der Innentasche des Ledermantels, setzte sie als Schutz gegen den kommenden, schneidenden Fahrtwind auf. Eine Ankündigung und Provokation.
Zeig, was du draufhast!
Dann gab sie Gas und fuhr einige Meter, ohne nach vorne zu schauen, wandte sich um und machte sich auf dem Sattel kleiner. Die Hayabusa röhrte auf und wurde zu einem rollenden Blitz aus Plastik und Stahl.
Zuerst fürchtete Sia, der Geländewagen würde stehen bleiben.
Los, trau dich!
Der X6 rollte schließlich an, beschleunigte souverän und hielt ihre Geschwindigkeit locker mit!
Das ist keine Standardversion.
Die Spoiler hatten sie bereits vermuten lassen, dass unter der Haube des BMW ein paar zusätzliche Pferdestärken eingebaut worden waren;
Weitere Kostenlose Bücher