Judaswiege: Thriller
mich mal an die Tastatur.«
Sam übernahm den Platz vor dem Laptop. Er knackte mit den Fingern und brachte sich in Positur. Er konnte zwar nicht so schnell tippen wie Wesley, aber es kam hier auch nicht auf das Zehn-Finger-System, sondern auf die Inhalte an. Und wenn sie ihn schon nicht mit technischen Mitteln stellen konnten, dann musste es halt die gute alte Psychologie richten. Er tippte eine schnelle Antwort, um die Konversation nicht einschlafen zu lassen.
[whisper to Judas_Iscariot]: Nein nein, sie ist wirklich wunderschön.
[whisper to Thunder]: Und dafür hast du so lange gebraucht?
[whisper to Judas_Iscariot]: Nein, natürlich nicht. Aber ich …
[whisper to Thunder]: ?
Sam wusste, dass er ihm die Kontrolle über die Konversation überlassen musste. Es musste so aussehen, als antworte er widerwillig, zögerlich, wie ein Anfänger. Wie ein Schüler.
[whisper to Judas_Iscariot]: Egal, vergiss es. Ist nicht so wichtig …
[whisper to Thunder]: Nein, sag. Was ist mit ihr?
[whisper to Judas_Iscariot]: Das Schönste an ihr …
Der nächste Satz war der entscheidende, aber Sam wollte ihn noch etwas zappeln lassen.
[whisper to Thunder]: Was ist das Schönste an ihr?
[whisper to Judas_Iscariot]: Ihre Angst.
Sam lehnte sich zurück. Jetzt galt es. Ob er mit seiner Vermutung richtig lag? Hatte er seine kranke Psyche zumindest im Ansatz verstanden? War es tatsächlich der Unterschied zwischen gespielter Angst und echtem Entsetzen, echten Schmerzen, echtem Leid, das ihn dazu getrieben hatte, die Frauen derart bestialisch zu quälen? Sam war sich nicht ganz sicher, aber jetzt konnten sie nur warten. Und die Minuten zogen sich in die Länge. Die Atmosphäre im Raum war gespannt, niemand traute sich zu atmen, als könnten sie den Moment konservieren, in dem sie ihn noch nicht verloren hatten. Aber wo hatte er einen Fehler gemacht? Es passte alles zusammen: Die Gopher-Tapes, das Veröffentlichen in einem SM-Forum, das ihm wahrscheinlich in seinen Jugendjahren zur virtuellen Heimat geworden war, das ihm Seiten gezeigt hatte, die ihn verstanden, mit Menschen, von denen er glaubte, sie tickten wie er. Nur, dass er krank war, aber das wusste er nicht.
[whisper to Thunder]: Ja, da hast du recht.
Sam atmete auf, machte aber keine Anstalten, ihm zu antworten. Wesley arbeitete an seinem Traceprogramm, das immer noch wirre Linien anzeigte. Sam blickte zu ihm herüber, aber der junge Kollege schüttelte den Kopf.
Klara sah ihn verwundert an: »Willst du nicht antworten?«
»Worauf? Er hat keine Frage gestellt. Warte es ab, er kommt schon zurück.«
Erst zwei Minuten später kam eine weitere Nachricht. Offenbar hatte er sich gut überlegt, ob er die Frage stellen sollte.
[whisper to Thunder]: Du hast gesagt, du bist gut mit Computern, oder?
[whisper to Judas_Iscariot]: Ja, ganz okay. Wieso?
[whisper to Thunder]: Wenn ich dir ein Foto schicke, kannst du rauskriegen, wer das ist?
Sam warf einen Blick zu Wesley, der mit den Schultern zuckte.
[whisper to Judas_Iscariot]: Kommt drauf an.
[whisper to Thunder]: Es ist eine Polizistin.
Jetzt war Sam alarmiert, was hatte das zu bedeuten? Er tippte seine Antwort schnell, um ihn ja nicht zu verlieren. Was für eine Polizistin?
[whisper to Judas_Iscariot]: Dann wahrschienlich schon.
Sam ignorierte den Tippfehler und schickte die Nachricht ab. Kurz darauf zeigte ein kleiner grauer Balken an, dass er ihnen ein Bild schickte. Mit zitternden Fingern griff Sam zur Maus und klickte auf die Datei. Sie blickten auf ein Bild, das mit einem starken Teleobjektiv aus großer Entfernung aufgenommen worden war und das eine zierliche Frau von der Seite zeigte. Ihre Locken wehten im Wind, und sie sah wütend aus. Sam erkannte im Hintergrund das Einkaufszentrum aus Chicago. Und die Polizistin war ihm nur zu gut bekannt, sie stand neben ihm. Die Frau auf dem Bild war Klara Swell.
K APITEL 29
Oktober 2011
New Jersey Turnpike
In einem Buch hatte Pia einmal gelesen, der berühmteste Werbeslogan für Rolls Royce lautete: »Das lauteste Geräusch bei hundertzwanzig Stundenkilometern ist das Ticken der Uhr.« Es stimmte. Der Wagen glitt wie eine Sänfte über den sechzig Jahre alten Highway Richtung Philadelphia. Sie fragte sich dennoch, wieso sie nicht in den Flieger gesprungen waren, statt eine fünfstündige Autofahrt auf sich zu nehmen. Ja, Thibault Stein hasste das Fliegen, aber musste er deshalb ihren Fahrer Edward, einen über achtzigjährigen Mann, quer durch drei
Weitere Kostenlose Bücher