Judaswiege: Thriller
von Tina Michalskys Leiche gesehen habe, wollen meine Finger einfach nicht mehr warm werden. Und ich glaube, ich weiß, warum: Es fehlten Schleifspuren. Es sah so aus, als habe Rascal Hill die Leiche nicht alleine beseitigt, sie muss getragen worden sein.«
Stein wäre fast vorne über seinen Stock gekippt, und auch Pia und Adrian konnten ihre Verwunderung schwerlich verbergen, nur Klara stand gelassen neben Sam und war offenbar über alles informiert.
»Sie glauben, es gibt einen zweiten Täter?«, fragte der Anwalt entgeistert. »Ist das Ihr Ernst?«
»Nicht direkt einen zweiten Täter …«
»Raus damit, Junge«, forderte der Anwalt, »was ist Ihr Verdacht?«
»Ich vermute«, sagte Sam und senkte dabei die Stimme, als dürfe er diesen Verdacht nicht zu laut äußern, er flüsterte beinahe, »dass er einen Komplizen haben könnte. Seine auffälligen Konversationen in dem Onlineforum, die Tatsache, dass er seine Familie komplett raushält, obwohl er in der ersten Dimension seines Charakters durchaus auch ein Familienmensch ist … Es könnte einen Sinn ergeben. Leider hat Marin mich komplett ignoriert. Für ihn ist der Fall erledigt. Täter tot, abgehakt.«
»Und Sie glauben«, der Anwalt atmete schwer, »dass das Mädchen noch leben könnte?«
»Tot ist sie für mich erst dann, wenn Marin ihre Leiche gefunden hat. Und das wird er nicht«, sprach Sam aus, was alle längst dachten.
—
Das Treffen bei Stein ging langsam dem Ende zu, und Sam hatte nach vier Gläsern Champagner einen trüben Kopf. Als sie sich vor der Tür verabschiedeten, stellte er fest, dass Adrian von Bingen und Pia Lindt ein hübsches Paar abgaben. Klara hatte ihm von ihrem Verdacht erzählt, und nachdem er sie während der letzten anderthalb Stunden beobachtet hatte, war er sicher, dass sie recht hatte. Die beiden waren weit mehr als die Assistentin seines Anwalts und der reiche Klient. Ehemals reiche Klient, vermerkte Sam, und freute sich einmal mehr, dass er den kauzigen Anwalt kennengelernt hatte. Er hatte nicht nur Stil, sondern auch Klasse und vor allem Anstand, eine Kombination, die man bei seinem Berufsstand nicht allzu häufig antraf.
Gerade als er mit Klara die Treppenstufen vor dem Haus hinunterstieg, bremste vor ihnen mit quietschenden Reifen ein Streifenwagen der New Yorker Polizei. Kurz darauf ein zweiter, dem direkt eine dunkle Limousine folgte. Marins Limousine. Sam schwante Schreckliches. Der Anwalt und Pia traten neben sie und betrachteten ungläubig das Schauspiel, von dem Sam wusste, dass es sich in den nächsten Minuten live und in Farbe vor ihren Augen abspielen würde. Die Beamten aus dem ersten Streifenwagen blieben in ihren geöffneten Wagentüren stehen, die zweite Crew baute sich direkt vor ihnen auf.
»Miss Klara Swell?«, fragten die Beamten überflüssigerweise, denn natürlich kannten auch sie ihr Bild aus dem Fernsehen, aber so verlangte es nun einmal das Protokoll. Klara nickte. Im Hintergrund sah Sam Marin aus dem Auto steigen. Er grinste selbstgefällig. An der Beifahrertür lehnte ein zweiter Mann im dunklen Anzug, den Sam nicht kannte. Er hatte einen Bauchansatz und rote Haare, und seine Pose stand der von Marin an Selbstgefälligkeit in nichts nach. Klara drehte sich zu ihm um, und Sam erkannte neben einem Vorwurf vor allem eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. Auch sie wusste, was jetzt kommen musste.
»Klara Swell, wir verhaften Sie wegen Einbruchs in Tateinheit mit schwerer Sachbeschädigung und Computersabotage zu Lasten der Truthleaks Foundation. Wir müssen Sie leider bitten, mit uns zu kommen.«
Wenigstens hat er genug Respekt, es so zu formulieren, dachte Sam zähneknirschend. Er warf einen wütenden Blick zu Marin und drohte ihm mit der Faust. Es würde nichts nützen. Marin hatte Rache gewollt, und er würde sie bekommen. Er wusste das, Klara wusste das, und selbst der alte Anwalt konnte nichts dagegen ausrichten.
Sam legte Klara eine Hand auf die Schulter. Als sie ins Auto stieg, warf sie einen letzten Blick zurück, traurig, dann einen zu Marin, verachtend. Keine zwei Minuten später waren die Streifenwagen abgefahren, und Sam stand ratlos mit Pia und dem Anwalt vor der Kanzlei. Der alte Mann gab ihm die Hand und versprach ihm, sich um die Sache zu kümmern.
Keiner der drei bemerkte den Wagen, aus dem ein Mann die Szene fotografiert hatte.
K APITEL 36
Oktober 2011
Rikers Island, New York City
Klara Swell lag auf einer harten Pritsche in einer zu kalten Zelle und
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