Judaswiege: Thriller
nicht etwa die Kaffeemaschine angelassen hatte, verließ er sein Haus. Nicht, ohne vorher noch einmal an der Eingangstür zu rütteln, ob sie auch richtig abgeschlossen war. So viel Zeit musste sein. Nicht meine einzige Marotte, aber sicherlich meine harmloseste, tadelte sich Sam, als er in den Wagen stieg. Heute mit Fanfare, dachte Sam und schaltete die fest eingebaute Sirene seines Zivilfahrzeugs ein. Dann legte er einen Gang ein und gab Gas.
Sam brauchte keine zwanzig Minuten bis zum Reagan, wie Einheimische den zweitgrößten Flughafen der Stadt nannten. Er hatte kein internationales Terminal und war weniger hektisch als sein großer Bruder, der Washington Dulles International, weswegen ihn das FBI bevorzugte.
Ihre Maschine, ein kleiner zweistrahliger Jet, war bereits startklar. Sam konnte mit seinem Ausweis direkt vorfahren, ebenso Wesley und seit etwa einem Monat auch wieder Klara, die er mit einem schmutzigen Trick zurück an Bord gebracht hatte. Natürlich hatte es Marin gar nicht gefallen, erpresst zu werden, aber er wollte auch nicht, dass seine Frau davon erfuhr, was er mit der fünfzehn Jahre jüngeren Blondine an den Wochenenden trieb, die er angeblich mit seinen Freunden beim Jagen in den Bergen verbrachte. Es war für Sissi ein Leichtes gewesen, in sein Haus einzusteigen, seinen Terminkalender zu besorgen und ihm dann bei einem seiner amourösen Abenteuer zu folgen und von der Fassade des heimlich gemieteten Hotelzimmers ein paar gestochen scharfe Bilder von ihm und seiner Geliebten in Ekstase zu schießen. Zähneknirschend hatte er zugestimmt, Klara zumindest vorläufig als Beraterin einzusetzen. Sam war es nur recht, denn er konnte jede Hilfe gut gebrauchen, und Klaras Talente konnten sich durchaus als nützlich erweisen.
Sam zündete sich eine Zigarette an und wartete neben seinem Wagen auf seine Partnerin, obwohl er nicht sicher war, ob er sie schon wieder so bezeichnen durfte. Klaras Mercedes kam keine drei Minuten vor Abflug auf dem nassen Vorfeld schlitternd neben seinem Wagen zum Stehen. Wesley saß schon in der Maschine, und so rannten sie über das Rollfeld. Noch während sie die kurze Gangway des Learjet hinaufstiegen, startete der Pilot die Motoren.
Obwohl es ein als Privatjet konzipiertes Flugzeug war, herrschten im Innenraum keineswegs luxuriöse Zustände. Immerhin konnten sie sich an einem Vierertisch gegenübersitzen, um sich auf dem Hinflug zu besprechen. Wesley hatte schon Quartier bezogen und seinen Laptop aufgeklappt.
»Also, Wesley, wo geht’s hin?«, fragte Sam, während das Flugzeug zur Startbahn rollte.
»Nach Wyoming. Es sieht so aus, als hätten wir Theresa gefunden.«
Sam öffnete eine der Akten, die Wesley mitgebracht hatte, und verteilte Fotos. Es waren Bilder, die das ganze Team in den letzten Wochen ständig begleitet hatten. Die junge Theresa, deren Aufnahmen als einzige jüngeren Datums waren. Bei ihr hatten sie zumindest die Chance, wenn auch nur eine kleine, ihre Leiche zu finden. Wie alle anderen sah sie jung, hübsch und unschuldig aus. Sie hatten auch die Fotos aus der Vermisstenkartei, die schönen aus besseren Zeiten. Auf einem trug sie eine gestreifte Bluse und lächelte in die Kamera.
Die früheren Mordopfer würden sie nie mehr finden. Ihre Leichen wären längst verfault, die Maden, Würmer, Bakterien und Fliegen hätten sie längst aufgezehrt. Die Pathologen hatten prognostiziert, dass sie maximal ein Jahr Zeit hatten, um einen halbwegs verwertbaren Leichnam zu finden. Danach blieben nur die Knochen, die sie weiterbringen konnten.
Seit zwei Wochen patrouillierte für sie die Geierstaffel über Wyoming. Die großen Aasfresser konnten Kadaver in bis zu hundert Kilometer Entfernung riechen. Indem sie die Geier von einem Flugzeug aus beobachteten, konnten die Kollegen auch riesige Waldgebiete absuchen. Die Vulture-Einheit war eine neue Einrichtung, es gab sie gerade einmal ein halbes Jahr, und voll einsatzbereit waren sie erst seit zwei Monaten. Sam und sein Team waren die Ersten, die sie einsetzen durften, und er war dankbar dafür.
Bisher wussten sie so gut wie nichts über ihren Täter, außer, dass er seine Opfer zu Tode quälte und seine Taten mit Bilderserien dokumentierte. Die Bilder tauchten stets als Erstes in Tauschbörsen auf und verbreiteten sich dann rasant im ganzen Internet, einige waren sogar auf sadomasochistischen Pornoseiten gelandet. Sam und Wesley zerbrachen sich seit Wochen den Kopf darüber, wie die Fotos dorthin gelangt sein
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