Judaswiege: Thriller
können. Wir glauben sogar zu wissen, dass er eine Art Anzug trägt, um keine DNA-Spuren zu hinterlassen.«
»So ähnlich wie ich?«
Sam nickte. Dasselbe Prinzip. Daran sind nur diese ganzen Serien schuld, mutmaßte Klara. Mittlerweile weiß doch jeder Depp, wie man Tatortspuren auswertet. Das FBI lieferte sich seit Jahren einen Kleinkrieg mit den Verbrechern um den nächsten technischen Vorsprung. Nur dass normalerweise Serienmörder viel zu triebgesteuert oder sogar geistig minderbemittelt waren, um sich um derartige Details zu kümmern. Zum Glück. Klara schwante, dass sie es mit jemandem zu tun hatten, der ungleich schwerer zu fassen sein würde als der reguläre Triebtäter. Sie rief die zweite Fotoserie auf, die das FBI erst heute Morgen entdeckt hatte.
Das Mädchen war sehr hübsch: schlank, blond und wahrscheinlich nicht einmal zwanzig Jahre alt. Sie wäre die ideale Kandidatin für ihr Highschool-Cheerleader-Team. Auch sie hing an ihren Armen, woran, ließ das Foto nicht erkennen. Was bedeutete dem Täter diese Haltung?, fragte sich Klara. Was soll uns diese mittelalterliche Inszenierung sagen? Das zweite Foto zeigte ihr Gesicht in Nahaufnahme, in dem Angst und Verzweiflung standen, aber auch Wut. Klara schätzte, dass es kurz nach ihrer Entführung entstanden war. Sie war noch nicht gebrochen. Sie klickte weiter, aber der Bildschirm blieb schwarz.
»Sind das alle?«
Sam nickte.
»Wie hieß sie noch mal?«
»Theresa Warren«, antwortete Sam. Wortlos gab sie Sam das Telefon zurück.
»Was denkst du?«, fragte Sam.
Klara dachte einen Moment darüber nach. Sie sah Jessica von Bingen und ihre leblosen Augen, in namenlosem Schrecken erstarrt und grausam leblos. Sie dachte an Madison, ihr Gesicht schmerzverzerrt. Die junge Theresa, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte und die jetzt am Pranger stand wie bei einem Hexentribunal. Plötzlich packte sie Wut. Und Entschlossenheit.
»Wir müssen ihn kriegen«, antwortete sie. »Wir müssen ihn kriegen, bevor er noch mehr Mädchen entführt und zu Tode foltert.«
»Nicht wir, Klara. Du hättest die Fotos nicht einmal sehen dürfen.«
»Bring mich rein, Sam. Das bist du mir schuldig.«
»Das geht nicht, Klara, und das weißt du genau.«
»Ja, aber wir wissen beide, dass du es tun wirst. Und du weißt auch schon, wie.«
Sam seufzte. Und Klara wusste, dass sie recht hatte. Ihr Expartner zückte einen Stift und notierte auf der Rückseite eines Wal-Mart-Belegs eine Adresse: Gil Marin, 3667 Fulton Street Northwest, Washington D.C.
Zwei Tage später verließ Klara das FBI-Büro in Quantico, stieg in den unauffälligen, aber stark motorisierten Mercedes, den sie von Steins Geld gekauft hatte, und fuhr vom Parkplatz. Als sie an dem Wachposten vorbeikam, winkte sie und griff zum Telefon. Sie wählte eine Nummer in New York: »Pia, sag ihm, ich bin drin.«
K APITEL 12
Juli 2011
Nina’s Trattoria, 46th Street, New York
Adrian von Bingen stand am Herd und schwitzte. In der Pfanne brutzelte ein Steak vor sich hin, das seiner Meinung nach diese Bezeichnung nicht verdient hatte. Er wunderte sich darüber, dass ihm solche Dinge wieder auffielen. Seit seiner Rückkehr aus dem Sumpf, wie er die Zeit nach Jessicas Tod nannte, die er hauptsächlich im Bett und in Kneipen verbracht hatte, interessierte es ihn eigentlich nicht mehr, ob er gut kochte. Er hatte Tausende Gerichte für Nina, seine Chefin, zusammengebraten: Hühnchen mit Tagliatelle (»Alfredo«), Steak mit Spaghetti und Tomatensauce (sollte Adrians Meinung nach verboten werden, hieß bei Nina aber Beef Involtini, obwohl es gar keine Roulade war). Essen für ahnungslose Touristen, die nach einem Theaterabend im nahen Theater District zu beseelt vom König der Löwen waren, um zu merken, was sie da eigentlich vorgesetzt bekamen. Selbst die Ärmsten der Armen, die er früher in seiner Obdachlosenküche verköstigt hatte, verstanden mehr vom Essen als diese Banausen nach ihrem Musical.
Adrian lächelte. Er hatte lange nicht an diese Zeit zurückgedacht. Wegen Jessica. Aber sie fehlten ihm, die Leute. Pele, der kleine alte Mann mit dem zahnlosen Lächeln, der immer Blumen mitbrachte für die Frauen an der Essensausgabe. Marco, der zwölfjährige Junge, dessen Traum es war, bei Adrian eine Lehre zu machen. Die Erinnerungen waren schön. Trotz Jessicas Tod. Sollte ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben?, fragte sich Adrian. Er hatte sich die Erinnerungen verboten. War das richtig? Adrian wusste es
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