Judaswiege: Thriller
konnten, und vor allem, warum. Bisher hatten sie keine befriedigende Antwort gefunden, aber ihnen war klar, dass der Schlüssel zu ihrem Fall entweder bei den Fotos oder bei den Leichen lag. Zumindest nachdem sich ihre heißeste Spur, die Autobomben, als kälter erwiesen hatte, als sie es für möglich gehalten hatten. Keine Fingerabdrücke, keine ungewöhnlichen Komponenten, nichts. Seitdem tappten sie komplett im Dunkeln: Es gab kein Muster in den Orten, an denen er die Frauen entführte. Vielleicht war er ein Handelsreisender, aber auch dafür gab es außer den wie zufällig wechselnden Tatorten keinen Hinweis.
Eine andere Möglichkeit war, dass der Zufall alles andere als zufällig, sondern vom Täter bewusst geplant war. Dies allerdings hieße, dass sie es mit einem sorgfältig vorgehenden Täter zu tun hatten, wovon Sam, wenn er ehrlich zu sich selbst war, mittlerweile aber ausgehen musste. Was ihn wiederum zu der Frage führte, worin für den Täter der Sinn lag, Bilder seiner Taten im Internet zu verbreiten. Es war nicht ungewöhnlich, dass Serienmörder ihre Gräuel dokumentierten, um sich später wieder daran aufzugeilen. Sexuell motivierte Serienmörder sind in aller Regel impotent, außer eben, wenn sie morden. Daher rührte auch der starke Drang, immer und immer wieder zuzuschlagen.
Als Sam das erste Mal mit einem Serienmörder zu tun hatte, hatte ihm ein Psychologe die Frage gestellt: »Stellen Sie sich vor, Sie könnten nie mehr einen Orgasmus haben. Nie mehr. Wirklich. Und das, was Sie tun müssen, um doch wieder einen zu haben, ist, ein junges Mädchen zu ermorden. Es ist wirklich Ihre einzige Möglichkeit, dieses Gefühl noch einmal zu erleben. Sie haben es in der Jugend mit Tieren probiert und konnten sich über Wasser halten. Aber jetzt sind Sie Ende zwanzig, nach dem Zenit Ihrer Manneskraft. Und die Tiere reichen nicht mehr. Die Katze liegt vor Ihnen, und das Gefühl kommt nicht zurück. Es tut sich nada bei Ihnen. Und Sie wissen: Wenn es keine Katze wäre, sondern ein Mädchen, dann käme das Gefühl zurück. Was würden Sie tun, Mr. Burke? Würden Sie Ihr Leben lang Verzicht üben? Oder würden Sie, selbst wenn Sie noch so stark sind, doch eines Abends denken: Dieses Mädchen da, das alleine am Straßenrand sitzt. Was wäre, wenn ich sie frage, ob ich sie mitnehmen kann? Ich würde sie ja nur fragen, natürlich würde ich nichts tun. Fragen Sie das Mädchen am Straßenrand, ob sie zu Ihnen ins Auto steigt, Mr. Burke? Es ist schließlich Ihre Entscheidung, nicht wahr?«
»Das ist krank«, hatte Sam geantwortet.
»Aber das ist genau der Punkt, Mr. Burke. Natürlich ist es das. Krank. Aber wenn Sie ehrlich sind, würden Sie sie fragen. Und damit wäre es um Ihre saubere bürgerliche Existenz geschehen. Denn wenn sie erst einmal bei Ihnen im Auto sitzt mit ihrer blassen Haut und den nackten Schenkeln …«
Er hatte nicht weiterreden müssen. Drei Jahre später saß Sam in einer Cessna Citation III Richtung Wisconsin und stellte sich die Frage, die ihn seit Monaten umtrieb: Warum die Filme? Als der stummelige Jet auf dem Johnson County Airport in der Nähe von Buffalo, Wyoming, aufsetzte, waren weder er noch Wesley oder Klara der Antwort ein Stück nähergekommen.
Der Leiter der Geierstaffel erwartete sie auf dem Rollfeld: ein leicht untersetzter Mann mit wuscheligen Haaren und einem Händedruck wie ein Matjes, der sich als Michael Paris vorstellte, Paris wie die Stadt. Sam fand ihn affektiert, und Klara rollte mit den Augen. Er lächelte spöttisch, hielt keinen direkten Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern und winkte sie so schnell wie möglich in den großen SUV, der am Rand der Rollbahn auf einem schmalen Grasstreifen parkte. Im Hintergrund waren die flachen Gebäude des Provinzflughafens zu erkennen.
Ihre Maschine war mit Abstand die größte auf dem gesamten Rollfeld. Sam nahm den Platz neben Michael ein, Klara und Wesley den geräumigen Fond, aus dem das Klappern von Wesleys Tastatur zu hören war, kaum dass Michael Paris den Motor angelassen hatte. Während der Fahrt klärte sie der Chef der ungewöhnlichen Suchmannschaft über die aktuelle Lage auf und kam nicht umhin, seinen Stolz auf die Tiere zum Ausdruck zu bringen. Ein Großer Gelbkopfgeier hatte in einem Waldstück etwa fünfzig Meilen entfernt eine Leiche gefunden. Der Bodentrupp hatte sie als Frau von etwa achtzehn Jahren identifiziert und direkt das FBI-Büro in Quantico verständigt. Bisher hatten sie die Tote
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