Judaswiege: Thriller
vielleicht für Freunde, vielleicht renoviert er sein Haus selbst. Oder er schraubt an einer alten Kiste herum.«
»Mit anderen Worten: Er ist ein Langeweiler?«, fragte Bennet.
»Wie er im Buche steht«, antwortete Sam. »In seiner bürgerlichen Identität. Seine zweite Identität jedoch ist die digitale. Sie ist seine Zwischenwelt, die Schnittmenge, mit der es ihm gelingt, seine Mordlust für einen gewissen Zeitraum zu überbrücken. Hier hat er Sozialkontakte, hier gilt er etwas. Er ist nicht mehr schüchtern, er ist eloquent, er findet sich brillant. Ich bin überzeugt, dass er einen großen Teil seiner Freizeit im Netz verbringt.«
»Und die dritte?«, fragte Klara.
»Die dritte Identität ist der Mörder. Stellt es euch vor wie Streifzüge oder einen Urlaub. Ich bin sicher, dass ein Teil dieser Mörder-Identität auch in der digitalen Identität vorkommt, aber die Taten selbst, die lange Planung, die Entführung, die Qualen, die er seinen Opfern zufügt, die finden in dieser dritten Identität statt.«
»Und wie hängen sie zusammen?«, wollte Bennet wissen. »Schließlich trifft die Beschreibung auf die halbe Bevölkerung zu.«
»Was die erste und die zweite Identität angeht, schon, Bennet, aber die dritte, das ist die pathologische. Es wird seit Langem in der Forschung diskutiert, wie sich die Gesellschaft durch das Internet verändern wird. Viele Folgen davon kennt ihr selbst in eurem täglichen Leben: Ihr schreibt euch Mails mit Freunden, die ihr seit Jahren aus den Augen verloren habt, ihr lest durch die Links, die euch Freunde schicken, Nachrichten, die ihr sonst niemals wahrgenommen hättet. Die positiven Seiten sind weitestgehend dokumentiert, aber aufgrund der geringen Fallzahl und der niedrigen Aufklärungsquote sind die dunklen Folgen der Digitalisierung unserer Gesellschaft und die Fluchtmöglichkeiten vor der Realität bisher kaum erforscht. Es gilt als gesichert, dass aufgrund der Tatsache, dass wir Gott sei Dank immer weniger Kriege auf der Erde haben, das Potenzial an aggressiven potenziellen Gewalttätern in der Gesamtbevölkerung zunimmt.«
Klara hob eine Braue: »Du meinst, weil die zu Aggressivität neigenden Teile der Bevölkerung besonders gut auf Anwerbeversuche durch die Armee reagiert haben?«
»Exakt, Klara. Und diese Folgen sind sogar bereits messbar. Hinzu kommt, dass die Verfügbarkeit von gewalttätigem Material durch die Entwicklung des Internets rapide zugenommen hat. Bilder von Leichen, seien es ein tödlicher Verkehrsunfall, den ein Passant filmt, oder die bewusste Verbreitung von Kriegsmaterial, die Verfügbarkeit von Gewalt hat deutlich zugenommen. Genauer gesagt um einen Faktor von etwa dreitausend Prozent in den letzten zehn Jahren, Tendenz rapide steigend.«
»Aber wie soll man das verhindern, wir können doch das Internet nicht zensieren, das würde doch …«, setzte Wesley an, aber Sam unterbrach ihn erneut.
»Wesley, ich bin vollkommen gegen jede Zensur, aber darum geht es gerade nicht. Wir haben das weder zu bewerten noch einzuschätzen, wir müssen mit den Folgen zurechtkommen. Und ich denke, wir haben es tatsächlich mit dem ersten Triple-Identity-Täter zu tun.«
»Du meinst, einen braven Bürger, der durch das Internet zum Serienmörder wurde?«
»Nein, Klara, durchaus nicht. Ich meine, einen kranken Geist, der mit den Optionen, die ihm das Internet zur Flucht wovor auch immer und wohin auch immer bot, nicht zurechtkam.«
K APITEL 17
Juli 2011
Days Inn, Gwenadele Ave, Baton Rouge, Louisiana
In dem schäbigen Hotelzimmer war es stickig, als atme man die abgestandene Luft aus einem kaputten Fahrradschlauch. Die Klimaanlage war wieder einmal ausgefallen, zum dritten Mal in den letzten vier Tagen. Direkt vor seinem Fenster lag das in dem ausgeblichenen Prospekt als »Pool Area« angepriesene Becken, das statt blauem Wasser nur Laub und Erde enthielt, was ihn aber nicht weiter störte. Seit er eingezogen war, hatte er keine Menschenseele vor seinem Fenster zu Gesicht bekommen, was ihn nicht verwunderte, im Gegenteil, es war sogar der Grund, warum er um genau dieses Zimmer gebeten hatte.
Er saß kerzengrade auf dem abgewetzten Polster des Holzstuhls und klappte seinen Laptop auf. Bevor er den Rechner startete, wischte er mit einem antiseptischen Tuch über die Tastatur und den Bildschirm, nicht, um Spuren zu verwischen, sondern aus reiner Gewohnheit. Und wegen der Hausmilben und wer weiß, was sonst noch alles kreuchte und fleuchte. Er hatte
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