Judaswiege: Thriller
wählte Klara die Hotline von FedEx und orderte eine Eilabholung für das Paket von Miss Smith. Sie entfernte die SIM-Karte aus dem Handy und warf sie auf die Straße. Das Handy versenkte sie im Spülkasten des Klos, hier würde es wochenlang niemand finden, und selbst wenn, hätte die Reinigungskraft sicher eine blühende Phantasie von Ehemännern, die ihre Geliebte davon überzeugen müssen, Single zu sein. Hotelangestellte hatten solche Phantasien, die öfter auf selbsterlebten Tatsachen beruhten, als man glauben konnte. So weit, so gut.
Klara löschte das Licht, hängte den Bademantel wieder an die Tür und begann mit dem mühseligen Unterfangen, Anzug No. 75 anzulegen. Sorgfältig wie immer prüfte sie jede Falte und bestückte jede Tasche mit den Utensilien, für die sie vorgesehen war. Auch ihr richtiges Handy und ein Bluetooth-Headset gehörten zu ihrer heutigen Ausrüstung, um den Kontakt mit Wesley zu halten. Bevor sie das Zimmer verließ, überprüfte sie noch einmal beide Koffer. Außer einigen verblichenen Klamotten, die sie in einem Secondhandladen in Chinatown gekauft und nie getragen hatte, würde nichts zurückbleiben. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Flur des Hotels menschenleer war, verließ sie ihr Zimmer und spurtete Richtung Treppenhaus. Leise öffnete sie die Tür und verschwand.
Der erste Teil der Route war der schwierigste, sie musste eine kleine Gasse hinter dem Hotel überqueren, um in den Block zu gelangen, in dem die Firmenzentrale von Truthleaks lag. Was ebenerdig wenige Schritte bedeutete, sah fünfzehn Stockwerke höher schon ganz anders aus. Auf dem Dach des Hotels sondierte Klara die Lage und musste wieder einmal feststellen, wie dankbar sie der New Yorker Feuerwehr sein durfte. Indem sie die Brandschutzbestimmungen alle paar Jahre auch für alte Gebäude verschärfte, wurden oftmals kostengünstige, aber eigenwillige Konstruktionen an den Bestand angebaut. So auch hier: Wie es ihre gründlichen Recherchen vorhergesagt hatten, lagen zwischen den Feuertreppen der beiden Gebäude im obersten Stock gerade einmal zwei Meter. Klara kletterte auf ihrer Gebäudeseite auf die Außenseite des Geländers, taxierte die Reling auf der anderen Seite und stieß sich so kraftvoll wie möglich von der Treppenkante ab. Das Geländer krachte, irgendwo unter ihr schlug Metall auf Metall. Aber Klara hatte es geschafft. Sie blickte in die Tiefe. Dreißig Meter unter ihr sah sie die verlassene kleine Straße, die hauptsächlich von Restaurantküchen als Müllkippe missbraucht wurde. Es war keine Menschenseele zu sehen. Glück gehabt. Mit einer geschmeidigen Bewegung schwang sie sich auf die andere Seite, zog sich aufs Dach und gelangte keine drei Minuten später mithilfe eines Dietrichs ins Treppenhaus.
Es handelte sich um ein Bürogebäude aus den Siebzigerjahren, dessen Schlösser kein ernsthaftes Problem darstellten. Zum Auswechseln waren die Vermieter meist zu faul, oder es fehlte schlicht jede Notwendigkeit. Klara wollte schließlich nicht in Fort Knox einbrechen, sondern nur bei Truthleaks. Deren Gebäude jedoch, das direkt an das angrenzte, in dem sie sich im Moment befand, war nicht aus den Siebziger sondern relativ neu, sodass Klara mit modernen Schließanlagen rechnen musste. Aber auch hier baute sie wieder auf die New Yorker Feuerwehr, denen sie unbedingt etwas spenden musste, sobald sie wieder zu Geld gekommen war.
Das Treppenhaus war leer, und Klara hatte keine Mühe, bis in den Keller vorzudringen. Jetzt wird es interessant, dachte sie und rief im Kopf den Plan des Gebäudes auf. Was auf dem Plan wie ein geräumiges Untergeschoss ausgesehen hatte, entpuppte sich als eine mit alten verstaubten Aktenschränken vollgestopfte, riesige Abstellkammer. Allein die Rohre, die an der Decke entlang verliefen, entsprachen dem Plan und boten ihr ein Mindestmaß an Orientierung. Sie folgte dem blauen und dem roten Rohr bis zu einer schweren, grauen Metalltür. Bingo, dachte Klara. Die Feuerwehr. Nach den katastrophalen Evakuierungserfahrungen am 11. September, als die Twin Towers eingestürzt und mehrere Tausend Menschen eingeschlossen, verbrannt oder von den Schuttmassen erdrückt worden waren, hatten Eigentümer die Pflicht, auch Fluchtwege im Keller zu den Nachbargebäuden anzulegen. Und Klara stand in diesem Moment vor der Tür, hinter der das Gebäude von Truthleaks lag. Aber ganz so einfach machten es ihr die Feuerwehrleute sicher nicht.
Sorgfältig suchte sie den Türrahmen nach
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