Judith McNaught
wurde sie beneidet und nachgeahmt. Hier zählte sie
nichts – weniger als nichts –, und der Neid verzehrte sie jeden Tag, wenn sie
in den Park ging und die feine Gesellschaft dort herumspazierte und sie
ignorierte.
Das Problem mit Thomas Morrison war,
daß er gar nicht merkte, daß sie etwas Besonderes darstellte. Jeder in Richmond
hatte das gewußt, sogar ihr Papa, aber der groQe gutaussehende Klotz, den sie
geheiratet hatte, begriff es nicht. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären,
aber er hatte sie beleidigt, indem er ihr vorwarf, sie habe sich nicht so
benommen, als ob sie etwas Besonderes sei! Wütend hatte sie ihm erklärt, daQ
Menschen sich immer so benehmen, wie sie behandelt werden. Diese Bemerkung
hatte so klug geklungen, als käme sie direkt aus dem Mund von Miss Bromleigh,
aber er hatte trotzdem nicht entsprechend darauf reagiert.
Aber was konnte sie auch von einem
Mann erwarten, dem es so offensichtlich an Kultur und Geschmack mangelte, daß
er noch nicht einmal den Unterschied zwischen einer bezahlten Gesellschafterin
und einer Erbin kannte?
Zuerst hatte er dieser Bromleigh
mehr Aufmerksamkeit als Charise geschenkt, und das war auch kein Wunder – Sheridan
Bromleigh kannte offenbar ihren Platz nicht. Sie las romantische Romane über
Gouvernanten, die den Hausherrn heirateten, und als Charise sich über diese
lächerliche Vorstellung lustig gemacht hatte, hatte sie kühn erwidert, sie
glaube nicht, daß Titel oder Reichtum zwischen zwei Menschen, die sich
wirklich liebten, eine Rolle spielten.
In Wirklichkeit, dachte Charise
bitter, während sie eine Scheibe Schinken mit dem Messer aufspießte, trug
allein Sheridan Bromleigh die Schuld daran, daß sie sich in dieser gräßlichen
Lage befand! Sie hätte sich nie bewogen gefühlt, Morrison ihrer unterbezahlen
Gesellschafterin abspenstig zu machen, als die beiden einander zu mögen
schienen, und sie wäre nie mit ihm durchgebrannt, hätte sie nicht jedem auf dem
Schiff, und ganz besonders Miss Bromleigh, beweisen wollen, daß Charise
Lancaster jeden Mann haben konnte, den sie wollte. Ihr gräßliches Leben war die
Schuld dieser rothaarigen Hexe, die ihr diesen ganzen Unsinn über romantische
Liebe und märchenhafte Hochzeiten, bei denen Geld und Titel keine Rolle
spielten, eingeredet hatte!
»Charise?«
Sie hatte seit zwei Tagen nicht mit
ihm geredet, aber etwas in seinem Tonfall ließ sie aufblicken, und als sie
seinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah, hätte sie ihn fast gefragt, was er
denn da gerade las, daß er so entgeistert dreinsah.
»Befand sich jemand auf unserem
Schiff, dessen Name zufällig auch Charise Lancaster lautete? Ich meine, so ein
außergewöhnlich häufiger Name ist das doch nicht, oder?«
Sie starrte ihn verächtlich an.
Dumme Frage. Dummer Mann. An ihr war absolut nichts Gewöhnliches, und schon gar
nicht ihr einzigartiger Name.
»In der Zeitung steht«, murmelte er
verwirrt, »Charise Lancaster, vor drei Wochen mit der Morning Star in London
eingetroffen, hat sich mit dem Earl of Langford verlobt.«
»Das glaube ich nicht!« erwiderte
Charise mit aufflammendem Zorn. Sie zerrte ihm die Zeitung aus der Hand, damit
sie die Bekanntmachung selbst lesen konnte. »Es gab keine andere Charise
Lancaster auf dem Schiff.«
»Lies es doch selbst«, sagte er
überflüssigerweise, denn sie hatte ihm die Zeitung bereits entrissen.
Einen Augenblick später warf sie die
Zeitung mit wutverzerrtem Gesicht auf den Tisch. »Jemand macht dem Earl vor,
sie sei ich. Irgendeine intrigante, gemeine, boshafte ...«
»Wo um Himmels willen gehst du hin?«
»Zu meinem 'frischgebackenen
Verlobten'.«
Achtunddreißigstes Kapitel
Leise summend nahm Sherry das Kleid
heraus, das sie in einer Stunde zu ihrer Hochzeit tragen würde, und legte es
über das Bett. Es war noch zu früh, um ihr Morgenkleid gegen das elegantere
blaue Kleid auszutauschen, und die Zeiger auf der Kaminuhr schienen nur mit
halber Geschwindigkeit vorzurücken.
Da sie unmöglich nur einige ihrer
Freunde einladen konnten und andere übergehen, hatten sie die Entscheidung getroffen,
die Hochzeitsgesellschaft nur auf die engste Familie zu beschränken. So
beleidigten sie die Gefühle der Freunde, die nicht eingeladen waren, nicht, und
die Hochzeit wurde zu einer ruhigen, intimen Angelegenheit, was Sheridan auch
bevorzugte. Außerdem konnte die Familie so ein paar Wochen warten, bevor sie
die Eheschließung offiziell bekanntgab, und das Ganze wirkte nicht so
überstürzt.
Die
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