Judith McNaught
warum Sie
weggelaufen sind und nicht wieder zurückkamen?«
»Nein.«
»Warum haben Sie es denn überhaupt
getan?«
Die Frage kam so schnell, daß
Sheridan zusammenzuckte. »Ich habe Ihnen das meiste gestern schon erzählt. In
der einen Minute dachte ich noch, ich sei Charise Lancaster, und in der
nächsten Minute stand Charise da und beschuldigte mich, mir absichtlich ihren
Namen angeeignet zu haben, und drohte mir, Stephen alles zu erzählen. Ich
geriet in Panik und lief davon, aber bevor ich mich noch von dem Schock erholen
konnte, zu wissen, wer ich wirklich bin, merkte ich, daß alle anderen mir auch
etwas über ihre Identität vorgelogen hatten. Unter anderem erinnerte ich mich
daran, daß Charise mit einem Baron verlobt gewesen war, und nicht mit einem
Earl, und sein Name hatte Burleton gelautet, nicht Westmoreland. Ich wollte
Antworten, ich brauchte sie, und so ging ich zu Nicholas DuVille. Er war
aufrichtig genug, mir die Wahrheit zu erzählen.«
»Was für eine Wahrheit erzählte er
Ihnen, Liebes?«
Noch immer beschämt über das, was
sie damals erfahren hatte, blickte Sheridan weg und tat so, als überprüfe sie
Halt ihrer Frisur im Spiegel, während sie antwortete: »Die ganze Wahrheit. Jede
beschämende Einzelheit, angefangen bei Lord Burletons Tod und dem Grund für
Stephens innere Verpflichtung, einen anderen Verlobten für mich zu suchen –
für Charise Lancaster, meine ich. Er klärte mich über alles auf.« Sheridan
schwieg und schluckte schwer an den Tränen der Demütigung in ihrer Kehle, weil
sie so dumm gewesen war zu glauben, daß Stephen sie wirklich hatte heiraten
wollen. Aus der gleichen Naivität heraus hatte sie ihm letzte Nacht ihre
Jungfräulichkeit und ihren Stolz geopfert. »Er erklärte mir sogar das größte
Geheimnis von allen, obwohl ich gestern Ihnen allen glaubte – wider besseres
Wissen.«
»Welches Geheimnis?«
Sheridans Lachen klang gepreßt und
bitter. »Stephens plötzlicher Heiratsantrag an dem Abend, als wir uns bei Almack's
befanden, paßte genau mit der Nachricht vom Tod von Charises Vater zusammen,
die er am gleichen Tag bekommen hatte. Er machte mir aus Mitleid und Verantwortungsgefühl
einen Antrag, nicht, weil er mich liebte oder mich gar heiraten wollte.«
»Es war nicht recht von Nicholas, es
Ihnen auf diese Art darzustellen.«
»Er hätte es nicht tun müssen. Das
liegt nur daran, daß ich bei diesem Mann da draußen immer wie ein Dummkopf reagiere.«
»Und haben Sie über all das letzte
Nacht mit Langford gesprochen?«
»Ich versuchte es, aber er sagte, er
wäre an einem Gespräch nicht interessiert«, erwiderte Sheridan bitter und ergriff
ihren Koffer.
»Woran war er denn dann
interessiert?« forschte Charity und neigte den Kopf auf die Seite.
Bei dieser unvermuteten Frage
blickte Sheridan sie rasch an. Manchmal schien ihr, als wäre die Schwester des
Duke of Stanhope gar nicht wirklich so geistesabwesend, wie sie immer wirkte –
jetzt zum Beispiel, wo sie die heiße Röte, die Sheridans Wangen übergoß, mit
einem entschieden wissenden Blick betrachtete. »Vermutlich wäre er an einem
Beweis meiner Unschuld interessiert, wenn er überhaupt an mir interessiert
wäre, und das ist er nicht«, wich sie hastig aus. »Wenn Sie es von seiner Seite
aus betrachten, so wie ich es gestern und heute nacht versucht habe, bin ich
aus Schuldgefühlen weggelaufen und habe mich versteckt. Welche andere
Entschuldigung könnte ich schon haben?«
Charity erhob sich. Sheridan blickte
sie an und wußte, daß sie sie nie wieder sehen würde. Tränen brannten in ihren
Augen, als sie die zierliche alte Dame umarmte. »Sagen Sie allen auf
Wiedersehen von mir und sagen Sie ihnen, ich weiß, daß sie wirklich versucht
haben, mir zu helfen.«
»Es muß doch noch etwas geben, was
ich tun kann«, sagte Charity. Ihr Gesicht sah noch zerknitterter aus als sonst.
»Ja, da ist noch etwas«, sagte
Sheridan mit einem aufgesetzten selbstbewußten Lächeln. »Sagen Sie bitte seiner
Lordschaft, ich wollte ihn gern für einen Moment privat sprechen.
Bitten Sie ihn, mich in dem kleinen
Salon direkt neben der Eingangshalle zu treffen.«
Als Charity gegangen war, um das
auszurichten, holte Sheridan tief Luft und trat zum Fenster. Ein paar Minuten
später sah sie, wie Charity zu ihm trat und ihm die Nachricht überbrachte. Er
stand so schnell auf und eilte so rasch zum Haus, daß Sheridan die Hoffnung
durchzuckte, er würde sie vielleicht – nur vielleicht – doch nicht
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