Judith McNaught
werden und ein
Leben in Luxus zu führen.
Tief im Inneren wußte er, daß die
Verantwortung, einen solchen Mann für sie zu finden, bei ihm lag, aber darüber
wollte er im Moment nicht nachdenken. Es minderte sein Vergnügen, und er wollte
den Rest des Abends für sie beide noch so angenehm wie möglich gestalten.
Jetzt stand Stephen im leeren Salon
und grübelte über die Frage nach, seit wann er eine solche Schwäche für junge
Mädchen in Schwierigkeiten nährte – und vor allem eine so bizarre Vorliebe für
junge Damen mit flammendrotem Haar.
Er fühlte sich bereit, seine Pflicht
als Beschützer zu tun, indem er seinen Gast unterhielt. Allerdings ruhte das
Haus so still und verlassen wie ein leeres Grab.
Er steckte die Hände in die Taschen
und drehte sich langsam um, wobei er immer noch halb erwartete, daß Sherry
oder ein Diener plötzlich aus irgendeiner Ecke der leeren Halle auftauchen
würde. Als nichts geschah, trat er ein paar Schritte vor, unentschlossen, ob er
zu Bett gehen oder seine sonst so effiziente Dienerschaft, die auf einmal eine
derartige Pflichtvergessenheit an den Tag legte, aufscheuchen sollte. Er wollte
gerade die Glocke läuten, als er gedämpfte Stimmen hörte, die irgendwo hinten
im Haus gleichzeitig sprachen. Dann verklang das Geräusch wieder.
Verwirrt wandte Stephen sich in die
Richtung, aus der der Lärm gekommen war. Seine Stiefel klangen dumpf auf dem
Boden der Säulenhalle. Er durchquerte sie und ging einen langen Flur entlang,
der zum rückwärtigen Teil des Hauses führte. Am Ende des Korridors blieb er
wieder stehen und lauschte mit schräggelegtem Kopf in die Stille. Sherry war
wahrscheinlich schon vor Stunden zu Bett gegangen, dachte er und ärgerte sich über
sich selbst. Da eilte er aus den einladenden Armen seiner Geliebten nach
Hause, um sich ihr wie ein übereifriges Kindermädchen anzudienen!
Er wollte sich gerade angewidert zum
Gehen wenden, als plötzlich aus der Küche Sherrys fröhliche Stimme durch den
Flur erschallte. »In Ordnung, dann wollen wir es alle noch einmal versuchen –
nur Sie, Mr. Hodgkin, müssen direkt neben mir stehen und lauter singen, damit
ich nicht wieder den Text durcheinanderbringe. Fertig?« fragte sie.
Und plötzlich brach ein Chor von
Dienstbotenstimmen mit einem munteren Weihnachtslied los, das alle englischen
Kinder seit dem Mittelalter singen konnten. Stephen ging auf die Küche zu, und
sein Ärger wuchs bei dem Gedanken, daß Sherry in der Küche bei seinen
pflichtvergessenen Dienstboten war, statt daß sie sich um ihn kümmerten. Auf
der Türschwelle zu dem großen, gefliesten Raum jedoch blieb er wie angewurzelt
stehen. Amüsiert und ungläubig blickte er auf das Bild, das sich ihm bot.
Fünfzig Dienstboten in ihren
unterschiedlichen Livreen standen in fünf Reihen vor Sherry und dem alten
Hodgkin. Normalerweise galt beim Personal eine strenge, jahrhundertealte
Hierarchie, an deren Spitze der erste Butler und die Haushälterin standen, aber
Stephen sah auf einen Blick, daß Sherry sie ohne Ansehen ihres Rangs oder ihrer
Würde angeordnet hatte, sondern wahrscheinlich nur nach ihren sängerischen
Qualitäten. Der arme Colfax, Stephens vornehmer Oberbutler, stand hinten in
einer Reihe zwischen einem Zimmermädchen und einer Wäscherin, während sein
Erzrivale um den ersten Rang im Haushalt, Stephens Kammerdiener Damson, es
geschafft hatte, einen wichtigeren Platz in der ersten Reihe einzunehmen.
Damson, ein äußerst streng auf Formen bedachter Gentleman, der selten geruhte,
mit irgend jemand anderem als mit Stephen zu sprechen, hatte den Arm um die
Schultern eines Lakaien gelegt, und die beiden strahlten vor Vergnügen, die
verzückten Blicke zur Decke gerichtet, wobei ihre Köpfe sich beinahe
berührten.
Einen solchen Anblick hätte sich
Stephen in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen können, und so blieb er
einige Minuten lang stehen und sah und hörte zu, wie Pferdeknechte, Türsteher
und Lakaien in voller Livree in demokratischer Harmonie mit Kammerzofen,
Wäscherinnen und molligen Küchenmädchen in gestärkten weißen Schürzen sangen.
Dirigiert wurden sie von einem
gebeugten, hochbetagten Unterbutler, der die Arme schwenkte, als dirigiere er
ein Symphonieorchester.
Stephen war so gebannt von der
Szene, daß er erst nach einiger Zeit merkte, wie hübsch Damson und der Lakai
und auch ein paar von den anderen sangen, und es dauerte sogar noch ein bißchen
länger, bevor ihm auffiel, daß er diese
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