Judith McNaught
Wagen ... und ein alter Mann, dem ein Zahn fehlte. Ein häßlicher Mann,
der sie angrinste.
»Sherry?«
Sherry unterdrückte einen
erschreckten Aufschrei. Sie drehte sich in ihrem Stuhl herum und starrte den
gutaussehenden Mann an, dessen Stimme sie normalerweise beruhigte – oder auch
erregte.
»Was ist los?« fragte Stephen
alarmiert, als er ihr betroffenes, blasses Gesicht sah, und kam auf sie zu.
»Nichts, Mylord«, log sie mit einem
nervösen Lachen und stand auf. »Sie haben mich erschreckt.«
Stirnrunzelnd legte Stephen ihr die
Hände auf die Schultern und blickte forschend in ihr blasses Gesicht. »Sonst
nichts? Was haben Sie eben gelesen?«
»Ein Buch über Amerika«, sagte sie.
Sie genoß das Gefühl, von seinen starken Händen gehalten zu werden. Manchmal
kam es ihr fast so vor, als ob er sie wirklich liebte.
Ein anderes Bild kam ihr in den
Sinn, viel verschwommener als die anderen ... aber tröstlich und so süß: Ein
gutaussehender, dunkelhaariger Mann, der vielleicht der Earl war, kniete vor ihr
und rief aus: Ich war nichts, bis du kamst ... nichts, bis du mir deine
Liebe gegeben hast ... nichts, bis du ... bis du ...
»Soll ich Whitticomb verständigen?«
fragte Stephen laut und schüttelte sie leicht.
Seine Stimme riß sie aus ihren
Träumen, und sie schüttelte lachend den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich habe
mich nur an etwas erinnert. Vielleicht habe ich mir auch nur eingebildet, daß
es wirklich passiert ist.«
»Was war es denn?« fragte Stephen.
Er löste seine Hände von ihren Schultern, aber sein Blick hielt sie immer noch
umfangen.
»Das würde ich lieber nicht sagen«,
erwiderte sie errötend. »Was war es?« wiederholte er.
»Sie würden doch nur lachen.«
»Lassen Sie es darauf ankommen«,
sagte er.
Sherry verdrehte in gespieltem
Entsetzen die Augen und lehnte sich an den Bibliothekstisch, auf dem das
aufgeschlagene Buch lag. »Mir wäre es lieber, Sie würden nicht darauf
bestehen.«
»Ich bestehe aber darauf«, beharrte
Stephen, der vergeblich versuchte, dem ansteckenden Lächeln auf ihren weichen Lippen
zu widerstehen. »Vielleicht handelt es sich um eine echte Erinnerung und nicht
nur um Ihre Einbildung.«
»Das können nur Sie wissen«, gab sie
zu und studierte angelegentlich ihren Daumennagel. Scheu blickte sie ihn unter
ihren langen Wimpern hervor an und fragte: »Als Sie mich baten, Sie zu
heiraten, haben Sie da zufällig erwähnt, daß Sie nichts waren, bevor Sie mich
kennenlernten?«
»Wie bitte?«
»Allein der Gedanke scheint Ihnen so
zu widerstreben«, sagte Sherry ohne jeden Groll, »daß ich vermute, Sie haben
auch nicht vor mir gekniet, als Sie mir Ihren Antrag machten?«
»Kaum«, erwiderte Stephen trocken.
Die Vorstellung, daß er eine so alberne Haltung eingenommen haben sollte, ärgerte
ihn so sehr, daß er ganz vergaß, daß er ihr überhaupt nie einen Antrag gemacht
hatte.
Sherrys Enttäuschung über seine
Antworten wurde aufgewogen durch seine wachsende Enttäuschung über ihre Fragen.
»Was war mit Blumen? Haben Sie mir zufällig einen Strauß Blumen hingehalten,
als Sie sagten, 'Ich war nichts, bis Sie mir Ihre Liebe schenkten, Sherry?
Überhaupt nichts, bis Sie in mein Leben traten'?«
Stephen stellte fest, daß sie sein
Unbehagen anscheinend genoß. Er packte sie unter dem Kinn. »Freche Göre«, sagte
er leichthin, wobei ihm auffiel, daß sie anscheinend nie Angst vor ihm hatte.
»Ich wollte Sie gerade in mein Arbeitszimmer bitten. Meine Familie wird jeden
Moment zu einer Art Besprechung dort eintreffen.«
»Was für eine Besprechung?« fragte
Sheridan. Sie klappte das Buch zusammen und stellte es wieder in den Bücherschrank.
»Eigentlich eine Besprechung über
Sie – über die beste Methode, Sie in die Gesellschaft einzuführen«, erwiderte
Stephen zerstreut. Er beobachtete sie, wie sie sich auf Zehenspitzen
hochreckte und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und bemerkte,
wie reizend sie aussah in einem eigentlich einfachen pfirsichfarbenen Kleid
mit hohem Stehkragen und eng geschnittenem Oberteil, das jede ihrer einladenden
Kurven geschickt hervorhob, ohne auch nur das kleinste bißchen Haut zu zeigen.
Nachdem er die ganze Nacht
durchgeschlafen hatte, fühlte er sich heute morgen bezüglich ihrer Probleme zuversichtlicher
als jemals zuvor, seit Sherry auf dem Dock vor seinen Augen zusammengebrochen
war. Mit Hilfe seiner Familie, die ihm gern ihre Mitarbeit und Unterstützung
angeboten hatte, schien die Idee, während
Weitere Kostenlose Bücher