Judith McNaught
Stephen erbte, waren
zwar alt und angesehen, das Land und das Vermögen jedoch, die sich daran
knüpften, unbedeutend. Stephen allerdings – und das ist der Punkt, an dem alles
anfing, sich ins Schlechte zu kehren – hatte sein Vermögen bereits verdoppelt
und verdreifacht. Er liebt Architektur, die er auch an der Universität
studiert hat, und so kaufte er ein unvorstellbar schönes Stück Land von
fünzigtausend Acres und begann, ein Haus zu entwerfen, das sein Hauptsitz
werden sollte. Während dieses Haus noch gebaut wurde, kaufte er drei weitere
hübsche alte Anwesen in verschiedenen Teilen Englands und ließ sie
restaurieren. Sehen Sie das Bild vor sich? Ein Mann, der immer schon wohlhabend
und gutaussehend gewesen war und aus einer der bedeutendsten Familien in
England stammt, und der, ganz plötzlich, drei Titel erbte, ein unermeßliches
Vermögen anhäufte und vier prächtige Anwesen erwarb. Können Sie sich
vorstellen, was als nächstes geschah?«
»Ich nehme an, er bezog eines seiner
neuen Häuser.«
Whitney starrte sie lachend vor
Entzücken an. Ihr gefiel ihre geradlinige Art und der Mangel an Arglist. »Das
tat er«, erwiderte sie, »aber darum geht es nicht.«
»Ich verstehe nicht.«
»Auf einmal wollten tausend Familien
nichts anderes als einen adligen Ehemann für ihre Töchter – und auch die Töchter
wollten nichts anderes –, und sie alle setzten Stephen Westmoreland plötzlich
auf ihre Liste erstrebenswerter Ehemänner. Das heißt, um genauer zu sein, an
die Spitze dieser Liste. Schon nach kürzester Zeit wurde Stephen so offenkundig
begehrt und umworben, daß es fast erschreckende Ausmaße annahm. Weil er damals
fast dreißig war, glaubte man, er müsse bald heiraten, und das gab der Jagd noch
eine zusätzliche Verzweiflung und Dringlichkeit. Ganze Familien stürzten sich
auf ihn, sobald er einen Raum betrat, Töchter wurden ihm in den Weg geschoben –
subtil natürlich –, wo er ging oder stand.
Die meisten Männer mit Titeln oder
Vermögen werden damit geboren, wie mein Mann zum Beispiel, und sie lernen, das
alles zu akzeptieren und zu ignorieren – obwohl mein Mann mir gestanden hat,
daß er sich oft wie Jagdwild vorkam. In Stephens Fall passierte das alles
sozusagen überNacht. Wäre es anders gelaufen, hätte die Veränderung nicht so
plötzlich und drastisch eingesetzt, dann hätte Stephen sich vielleicht
geduldiger, oder zumindest toleranter, in die Situation gefügt. Und vielleicht
wäre es sogar noch so gekommen, wenn er sich nicht mit Emily Kendall eingelassen
hätte.«
Sherrys Magen zog sich bei der
Erwähnung einer Frau, mit der er sich »eingelassen« hatte, zusammen, zugleich
jedoch konnte sie ihre Neugier nicht beherrschen. »Was geschah?« fragte sie,
als Whitney zögerte.
»Bevor ich es Ihnen erzähle, müssen
Sie mir versprechen, daß sie nie jemandem ein Wort davon verraten.«
Sherry nickte.
Whitney stand auf und ging unruhig
hinüber zum Fenster, dann drehte sie sich um und lehnte sich gegen den Fensterrahmen,
die Hände auf dem Rücken, und begann mit ernstem Gesicht: »Stephen lernte
Emily zwei Jahre, bevor er seine Titel erbte, kennen. Sie war die schönste
Frau, die ich je gesehen habe, und zugleich eine der geistreichsten und amüsantesten
... und der hochnäsigsten. Ich zumindest fand sie hochnäsig. Auf jeden Fall war
gut die Hälfte aller Junggesellen in England verrückt nach ihr, und das ließen
sie sie auch spüren. Sie schaffte es auf eine ganz erstaunliche Art, daß alle
Männer ihr zu Füßen lagen; nur Stephen wollte sich ihr nicht beugen, und vermutlich
machte das seinen Reiz für sie aus. Er bedeutete eine Herausforderung für sie.
In einem Augenblick geistiger Umnachtung – anders kann ich es mir nicht
vorstellen –, bat er sie, ihn zu heiraten. Sie war außer sich.«
»Weil er sie liebte?« fragte Sherry.
»Weil er es wagte, um ihre Hand
anzuhalten.«
»Was?«
»Mein Mann, der die Geschichte
direkt von Stephen erfuhr, hat mir erzählt, daß Emily zuerst schockiert und
dann verärgert reagierte, weil er sie in eine solch unmögliche Lage gebracht
hatte. Sie war – ist – die Tochter eines Herzogs, und anscheinend hätte ihre
Familie einer Heirat mit einem Mann ohne Adelstitel nie zugestimmt. Vierzehn
Tage später sollte sie mit William Lathrop getraut werden, dem Marquis von
Glengarmon, einem alten Mann, dessen väterlicher Besitz an den von Emilys Vater
grenzt. Bis dahin wußte noch niemand von dem Verlöbnis, weil es gerade
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