Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
dem ersten Prozeß und später im Revisionsverfahren hat er mehr – viel mehr – von diesem Priester erzählt.
Kurz nach seinem achten Geburtstag hatte Jürgen sein erstes homosexuelles Erlebnis, als ein fast doppelt so alter Vetter von ihm verlangte, sich auf die Couch zu legen und die Hose zu öffnen als Belohnung für die Benutzung seiner Kopfhörer. Dieser Vetter – mittlerweile verheiratet und im Ruhrgebiet als katholischer Kindererzieher tätig – wurde in beiden Prozessen als Zeuge nicht vorgeladen.
Sigmund Freud hat Grundlegendes zur psychoanalytischen Deutung des Sadismus in wenigstens fünfzehn seiner Arbeiten geschrieben, am ausführlichsten in den Schriften «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie», «Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens», «Das Tabu der Virginität», «Jenseits des Lustprinzips», «Das ökonomische Problem des Masochismus» und «Das Unbehagen in der Kultur». Man findet eine neuere, ungewöhnlich klare Deutung des Sadismus in dem meisterhaften Werk
The Psychoanalytic Theory of Neurosis
von Otto Fenichel: «Wenn sexuelle Lust durch Angst beeinträchtigt wird, dann ist es verständlich, daß eine Identifizierung mit dem Aggressor Erleichterung bringen kann. Wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, anderen das anzutun, wovon er fürchtet, andere könnten es ihm selbst antun, dann braucht er nicht mehr Angst zu haben. Demnach kann alles, was dazu beiträgt, seine Macht und sein Prestige zu vergrößern, zur Beruhigung seiner Ängste dienen. Was er selbst erleiden könnte, tut er aktiv, den Angriff vorwegnehmend, den anderen. Es gibt sadistische Handlungen, bei welchen das Opferernsthaft verletzt oder gar getötet wird. In solchen Fällen ist der Gedanke ausschlaggebend, daß eine passiv zu erleidende schreckliche Erfahrung vermieden wird durch das aktive Verüben eines Verbrechens und daß eine besondere Einheit mit dem Opfer hergestellt wird.»
Spezifisch über Jürgen Bartsch schrieb der Psychoanalytiker Tobias Brocher: «Der Täter sucht eigentlich in seinem Opfer gleichsam ein Abbild seiner selbst als Kind, das er dann so verderben und zerstören will, wie er selbst auch als Kind zerstört wurde. Dies ist der unbewußte Racheinhalt, den Bartsch in seinem ersten Prozeß als ‹unheimlichen Trieb› bezeichnete, ohne ihn tatsächlich zu kennen. Die verbliebene, unbewußte Kinderangst vor der phantasierten Kastration läßt ihn jüngere Knaben in Angst und Wehrlosigkeit versetzen, um sie dann zu quälen, zu kastrieren und zu töten.»
Die nackte, unbedingte Macht – so omnipotent und unwiderstehlich wie die vom Kinde empfundene Macht seiner Eltern – spielt beim Sadisten eine fast so wichtige Rolle wie das Quälen, das Verhängen von Schmerzen; Jürgen nannte es sogar ein «sexuelles Machterlebnis». Wichtig ist auch die Manipulation des Opfers in eine Zwangslage hinein, wo es sein eigenes Peinigen tatsächlich erbitten muß, in der verzweifelten Hoffnung, sich das größere Übel – das Schrecklichste von allem – zu ersparen. Über den kleinen Nachbarssohn Axel O., ein frühes Opfer, das Jürgen leben ließ, schrieb er mir: «Ich schrie wieder ihn an, ‹So wie Du jetzt bist, legst Du dich jetzt auf meinem Schoß, mit dem Po nach oben! Mit den Beinen darfst Du strampeln, wenn es weh tut, aber Arme und alles andere müssen ganz still sein! Ich schlage Dir nämlich jetzt dann dreizehn Schläge auf den Hintern und einer immer fester als der andere. Wenn Du nicht willst, bring ich Dich um (das ‹umbringen› war damals noch eine leere Drohung, zumindest war ich selbst davon überzeugt)! Willst Du?»
In seinem 1945 veröffentlichten Buch schrieb Otto Fenichel: «Bisher ist noch kein Triebmörder analysiert worden, aber wenn man an Fälle denkt, in denen Phantasien dieser Art entscheidendwaren, und auch an Erlebnisse mit weniger ausgeprägten Sadisten, dann darf man annehmen, daß das Über-Ich in solchen Fällen eine komplizierende Rolle spielt. Die sadistische Handlung bedeutet nicht nur ‹Ich töte, um nicht getötet zu werden›, sondern auch ‹Ich strafe, um nicht bestraft zu werden›, oder aber ‹Ich erzwinge Verzeihung durch Gewalt›. Menschen, die narzißtische Zufuhr benötigen, neigen, wenn sie so frustriert sind, zu intensiv sadistischen Reaktionen. Unter gewissen Umständen kann so eine Neigung wachsen, bis sie in einer Tat kulminiert, die eine Angst – ‹Wenn ich etwas Sexuelles tue, muß ich bestraft werden› – durch Herstellung von Angst
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