Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
verdrängt: ‹Ich quäle dich, bis du durch die Intensität deines Leidens gezwungen bist, mir zu verzeihen, mich von dem Schuldgefühl zu befreien, das meine Lust blockiert, und so durch und in deiner Verzeihung mir sexuelle Befriedigung zu verschaffen.› Der Sadist, der Unabhängigkeit vortäuscht, verrät also eine tiefe Abhängigkeit von seinem Opfer. Durch Zwang versucht er, die Liebe seines Opfers zu gewinnen; die Liebe, die er sucht, ist eine primitive und hat die Bedeutung einer ‹narzißtischen Zufuhr›. Das Modell dieser Art von Sadismus ist der preußische König Friedrich Wilhelm [I., der Soldatenkönig], der seine Untertanen zu verprügeln pflegte und dabei brüllte: ‹Du sollst mich nicht fürchten, du sollst mich lieben!›»
Professor Eberhard Schorsch, Direktor des Hamburger Instituts für Sexualforschung, hat 1982 geschrieben: «Sehr global läßt sich sagen, daß die Dynamik des Sadismus mit sehr frühen Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung, vor allem in der Verselbständigung und Autonomiegewinnung, zusammenhängt. Instabilität der eigenen Identität, Unsicherheiten, Ängste und unentschärfte destruktive Impulse sind Reste solcher frühen Störungen. Die Sexualisierung von Destruktivität ist einer der möglichen Abwehrmechanismen zur Entlastung von dieser Dynamik. Die Verbreitung der Affinität zu sadistischen Reaktionen und Brutalitäten läßt keinen anderen Schluß zu als den, daß die primäre Sozialisation in der bestehenden Familienstruktur ein riskanter, kritischer und häufig nicht gelingender Prozeß ist.Deshalb müssen wir mit einem latenten Potential von Destruktivität in der Gesellschaft leben. Eine archaische Destruktivität gehört, wie die Psychoanalyse meint, zur ursprünglichen Ausstattung des Menschen. Entscheidend für das Schicksal dieser Destruktivität sind vor allem die ersten beiden Lebensjahre: von dem Ausmaß, in dem die Mutter sich mit intensiver Bezogenheit und Empathie dem Kind zur Verfügung stellt und das Kind diese Zuwendung wahrnehmen und sich zunutze machen kann, hängt ab, ob und inwieweit die ursprüngliche Destruktivität entschärft und in soziale Antriebe umgeformt werden kann. Wenn diese Umformungsprozesse, die sich nur in Beziehungen vollziehen, häufig nicht gelingen, dann drängt es sich auf, hier Zusammenhänge zu sehen mit dem Selbstverständnis, der Identität, der gesellschaftlichen Rolle der Frau – mit Problemen ihrer eigenen Autonomie, der Rolle des Kindes für ihre Identität, mit Schwierigkeiten, Kinder in die Autonomie zu entlassen … Mehr als eine vage Hypothese läßt sich hieraus zunächst nicht ableiten – eine Hypothese, die einer gründlichen Untersuchung wert wäre. Das latente Potential an Destruktivität ließe sich so plausibler erklären als durch die Annahmen von Reich und Horkheimer, die die Affinität zu Sadismus und Faschismus als Folge einer für deutsche Verhältnisse typischen patriarchalisch-autoritären Familienstruktur und eines sadistischen Vaterbilds mit einem Erziehungsstil zum Untertan angesehen haben. Die Entwicklung seit dem 2. Weltkrieg mit der weltweiten Eskalierung von sozialem Sadismus hat gezeigt, daß sich diese Probleme nicht nationalisieren und nicht regional eingrenzen lassen.
«Der Zusammenhang zwischen der sadomasochistischen Perversion und der Brutalisierung des gesellschaftlichen Lebens ist zwar kompliziert, aber vorhanden.»
Nach Beendigung der Schulzeit wußte Jürgen nicht, was er werden sollte, so daß sein Vater, der ihm schon als Neunjährigem zum Karneval eine eigens geschneiderte Fleischerschürze umgehängt hatte, für ihn die Entscheidung traf: «Dann wirst du eben Metzger.» Er ließ jedoch die Möglichkeit offen, daß Jürgen späteranderen Sinnes werden würde; er sprach sogar davon, daß er studieren könnte. Der Vierzehnjährige kam nach Essen zu einem Kollegen seines Vaters, dem Metzgermeister van Loon, wo er Kost und Logis, aber keinen Pfennig Geld erhielt. Über sein Verhältnis zu Herrn van Loon bemerkte Jürgen: «Er hat mich immer gepiesackt», und fügte mit der aufschlußreichsten Fehlleistung des ganzen ersten Prozesses hinzu: «Er nannte mich so» – er stotterte – «Mutterschürz – äh – daß ich am Muttersöhnchenzipfel hing.» Diese Äußerung wird klar, wenn man die Bedeutung des Wortes «Zipfel» gleich «Knabenpenis» kennt.
Vom Leben in seinem Elternhaus erzählte Jürgen: «Es gab kaum einen Tag ohne Anschreierei, meistens wegen Geld.
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