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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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eines großen Teils seiner Initiative beraubt. Schaffner hätte die Familie Bartsch meinen können, als er schrieb: «Man bestimmt, wann es aus der Schule nach Hause kommen soll, wie lange es mit anderen Kindern auf der Straße spielen, welchen anderen Kindern es sich anschließen darf und welchen nicht, und die Abende verbringt es unter der Aufsicht seiner Eltern   … Man lehrt die Kinder, daß es nicht gut ist, wenn sie zuviel Freiheit haben, weil ihnen das Urteil fehlt, sie vernünftig zu gebrauchen   … Den Kindern wird die Freiheit nicht nur vorenthalten, sondern auch als nicht wünschenswert hingestellt.»
    Der bestürzende Aspekt von Schaffners Buch in Verbindung mit dem Fall Bartsch besteht darin, daß er überzeugend nachweist, wie dieses Autoritätsschema es der Mehrheit des deutschen Volkes verhältnismäßig leicht machte, die politische Autorität Adolf Hitlers und des Dritten Reichs nicht nur hinzunehmen, sondern sich ihr auch so lange und so furchtbare Jahre hindurch anzupassen. Schaffner meinte damals, es würde von allen Aufgabennach dem Zweiten Weltkrieg die schwierigste sein, die deutschen Familienverhältnisse zu ändern, besonders da deutsche Väter jeden Eingriff in ihre Autorität ablehnen, während deutsche Mütter fürchten, den Zorn ihrer Männer zu erregen, und traditionsgemäß konservativ sind. Im Jahre 1949 schrieb Schaffner: «Es ist vorstellbar, daß in zwei, drei oder vier Generationen aufgrund von äußeren Einflüssen eine Veränderung der Grundpersönlichkeit der Deutschen stattfinden wird, aber wer die verbohrten und restaurativen Seiten des deutschen Charakters kennt   …, den dünken die Chancen für solch ein glückliches Gelingen nicht sehr groß.»
    Das Urteil in der ersten Instanz des Prozesses gegen Jürgen Bartsch schien nur einen Teil der Öffentlichkeit befriedigt zu haben. Als der Vorsitzende es verkündete, applaudierten die Zuhörer im Gerichtssaal – vom Richter weder unterbrochen noch zurechtgewiesen – und äußerten lautstark ihre eigenen Meinungen, wie mit solchen Anomalien der Gesellschaft zu verfahren sei: Man solle Bartsch aufs Schafott schleifen und vierteilen, man solle ihn laufenlassen, aber für vogelfrei erklären, und so weiter. Unter den Rufen im Gerichtssaal hörte man «Aufhängen!» «Totschlagen!» «Wo bleibt die Todesstrafe?» «Wollt ihr dieses Schwein sein Leben lang ernähren?»
    In der ernst zu nehmenden Presse erschienen weniger emotionale Reaktionen. Im
Spiegel
schrieb Gerhard Mauz: «Das Zuchthaus ist die Vergeltung, die Rache. Da wird er dann hocken, seinen Phantasien ausgeliefert, und er wird immer scheußlichere Erfindungen seines verirrten Vorstellungsvermögens onanierend durchspielen. Wer Rache will, wird das für billig halten. Doch werden wir leiden müssen, solange wir leiden lassen   … Behandlung sollte ihm zuteil werden. Und lernen können sollte die Wissenschaft an ihm. Dafür lassen jedoch unsere Gesetze keine Tür. Sichernde und zugleich therapierende Verwahrung haben wir nicht. So werden wir dann weiter leiden müssen, an Tätern, die gesund sind nach einem Begriff, der die Behandlung des Verbrechers ausschließt; an einem Begriff von Gesundheit, der dieechte Prävention unmöglich macht.» Bernd Naumann, der in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
über den Prozeß glänzend berichtet hatte, sagte in einem Kommentar für den Deutschlandfunk: «So entschieden bejahend aber auch ihre Aussage über die strafrechtliche Verantwortlichkeit Bartschs und seine psychische Gesundheit war, so sehr blieben [die Sachverständigen] eine einleuchtende Erklärung schuldig für die Gründe seiner abnormen Triebfixierung und seines fehlenden Steuerungswillens.»
    Richard Kaufmann in
Christ und Welt
: «Es ist ein bemerkenswertes Faktum, daß weder Richter noch medizinische Gutachter der Frage, wie es zu diesem Drang gekommen ist, besondere Achtung schenkten – fast, als wollten sie die Gesellschaft, die sie vertreten, vor der Erkenntnis schützen, daß irgend etwas bei uns sehr faul ist. Denn dieser Bartsch ist ja nicht als ein fertiger Unhold in die idyllische Landschaft von Langenberg getreten   …
    Wie viele Kinder mit einer ähnlich fatalen Veranlagung geraten in gleiche Situationen, werden erst verdorben, um dann andere zu verderben?   … Aufklärung des Falles Jürgen Bartsch bedeutet: Aufklärung von Situationen, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind und immer wiederkehren, die latente Kriminelle erst zu wahren

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