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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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Kriminellen machen, die in anfälligen Naturen die – potentiell in uns allen schlummernde – Kriminalität erst virulent werden lassen. Das Zwielicht über dem Fall Bartsch wurde durch das Gericht nicht geklärt. Eher kann man sagen, daß alle froh waren, so viel wie möglich im Dunkeln zu lassen.»
     
    Es gab damals in Deutschland einen einzigen Psychoanalytiker, der sich öffentlich für Jürgen Bartsch engagierte: Prof.   Dr. med. Tobias Brocher, stellvertretender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. Im Auftrag der
Frankfurter Rundschau
hatte er noch während des Prozesses einen ungewöhnlich aufschlußreichen Kommentar darüber geschrieben. Kurz nach dem Prozeß haben sich unsere Weihnachtsurlaubswege in Stuttgart gekreuzt; dort haben wir uns kennengelernt und den Verlauf des Prozesses einen ganzen Abend besprochen. Ein paar Tage später,am 27.   Dezember 1967, hat mir Brocher aus Theresienhöhe geschrieben: «Das erste Kapitel im neuen Buch der Mitscherlichs gibt Ihnen gewiß auch noch Material. Ich fürchte, der allgemeine Widerstand gegen diese Zusammenhänge wird genau so groß sein, wie die Abwehr gegen die sexuelle Haßliebe von Bartsch zu seiner Adoptivmutter. Kennen Sie die Geschichte ‹Mutters Sinn für Humor› von Angus Wilson? Dies auf viel niedriger Ebene muß die Quelle von Bartschs Phantasien sein. Ich erinnere mich aus einigen Analysen an die unbewußte Motivation ‹chirurgischer› . (anatomischer und gynäkologischer) Interessen. Wie sollte es anders sein? Die Problemblindheit und Ignoranz in Deutschland gegenüber unbewußten Motivationen hat gewiß recht, daß gerade dies den so unverständlichen, aus der Idealisierung lebenden
furor teutonicus
abdeckt. Um es mit Fontane zu sagen: ‹Das ist ein weites Feld!›
    «Präzise sollten Sie in Ihrem Artikel fragen: Was geschieht mit Bartsch? Wer behandelt ihn und wer klärt nun, was da tatsächlich vor sich ging? Man wird doch nicht so naiv sein, in der Deskription der Tat und der Täterstruktur stehen zu bleiben. Dann wären wir über Lombroso noch nicht hinausgekommen   …» Drei Jahre später, im Düsseldorfer Revisionsprozeß gegen Jürgen Bartsch, hat Brocher als erster Psychoanalytiker in einem wichtigen bundesdeutschen Kriminalverfahren begutachtet. Zu seinem ersten Brief an mich fügte er eine überraschend ausführliche Stellungnahme zum ersten Prozeß hinzu:
    «1.) Gutachtersituation: Die klinischen Möglichkeiten der ausreichenden forensischen Begutachtung sind durch zwei Behauptungen eingeengt: a.) Ein anderer Gutachter hätte zu keinem anderen Ergebnis kommen können als die tätigen Sachverständigen. Das ist ein durchaus einseitiger, unbewiesener Anspruch auf eine allein gültige Aussage, obgleich wesentliche, entwicklungspsychologisch für die Beurteilung der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bedeutsame Tatsachen bekannt waren; b.) die weitere Behauptung, auch psychoanalytisch ausreichend vorgebildete Sachverständige würden an dem forensischenAspekt nichts ändern können, macht die Aussage der Sachverständigen zu einem Politikum, d.   h., es erscheint so, als habe eine Prüfung der Zurechnungsfähigkeit mit genaueren Methoden aus kriminalpolitischen Überlegungen ausgeschlossen werden müssen. Damit gerät der Gesamtprozeß in die Nähe eines Urteils aus ‹gesundem Volksempfinden›, weil andere, faktisch außerordentlich berechtigte und zu prüfende Aspekte der Tat gar nicht erst zugelassen wurden.
    «Das entspricht der Gesamtauffassung zeitgenössischer forensischer Psychiatrie, die dem Problembewußtsein der Allgemeinheit deshalb entspricht, weil grundsätzlich dynamische Zusammenhänge i. S. unbewußter Motivationen als forensisch irrelevant angesehen werden. Der Grund für diesen Immobilismus liegt in der allgemeinen Verleugnung der kollektiven Grausamkeit. (Siehe hierzu auch Alexander u. Margarete Mitscherlich:
Die Unfähigkeit zu trauern;
Piper, München, 1967.) Von diesem Aspekt ist Bartsch – unabhängig von den individuellen Problemen der spezifischen Täterstruktur – ein ‹Symptom›, das die verdrängten und bis heute verleugneten Erinnerungen an die Ermordung von unschuldigen Kindern und Erwachsenen in der ‹Endlösung› mobilisiert. Dieser Zusammenhang kann nicht akzeptiert werden. Daher wird allen Beteiligten bescheinigt, daß sie das Beste gewollt und nur Gutes getan haben. Dies entspricht dem allgemeinen Verhalten gegenüber der Erinnerung an Verbrechen, die geduldet wurden,

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