Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
im 19. Jahrhundert gereift sind. Peinlich aber war die gezielte und sich empört gebende Stimmungsmache. Prof. Lauber eröffnete seine Diagnose der gesunden Bestie Bartsch mit denWorten: ‹Tagelang herrschte in diesem Saal lähmendes Entsetzen. Wir wurden an den Abgrund des nicht mehr Faßbaren geführt. Doch nur Laienverstand kann denken: das ist doch nicht normal.› Er jedenfalls, als Fachmann, hielt es für normal. Nur eben: die Bestie hätte sich beherrschen sollen. Wir tun es doch schließlich alle.»
Einer der drei Richter in Wuppertal hieß Günter Zick; damals war er zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet, Vater eines Kindes. Fünfzehn Jahre später in einer Stellungnahme fürs Zweite Deutsche Fernsehen sagte er rückblickend: «Möglicherweise stand am Anfang des Verfahrens die innere Entrüstung darüber, daß ein Mensch überhaupt in der Lage ist, derartige in der Kriminologie bisher noch nie geschilderten Taten zu begehen, im Vordergrund. Im Laufe des Prozesses mußte insbesondere nach dem Ablegen des Generalgeständnisses sich bei uns die Mitleidensfähigkeit mit dem Täter verstärken.»
In mehr als einer Beziehung gehört der Fall Jürgen Bartsch eher dem neunzehnten Jahrhundert als der zweiten Hälfte des zwanzigsten an. Die grundlegenden Veränderungen in der Struktur der deutschen Familie, die sich aufgeklärte Menschen, Deutsche wie Ausländer, in der kurzen guten alten Zeit der Besinnung nach der Niederringung der Hitlerdiktatur wünschten, sind nur in einem begrenzten Maße eingetreten. Jürgen Bartsch kam aus einem deutschen Milieu, so «gut», so «typisch», daß es einem fast wie eine Karikatur vorkommt, weil einzelne Aspekte der traditionellen Familienstruktur, die heute immer noch als Tugenden geschätzt werden, ins Extrem getrieben wurden – und die Grauenhaftigkeit der psychischen Wunden, die dieses Milieu ihm in seinen entscheidenden Jahren zufügte und für die niemand das Kind selber verantwortlich machen kann, zeigt ihr Ausmaß in der Grausamkeit, mit der er selber sich an seinen Opfern verging. Das traditionelle, nur zum Teil gewandelte deutsche Familiensystem nach autoritärem Schema, das die sadistischen Judenmörder vonBiałystok hervorbrachte, brachte eine Generation später nach dem Krieg auch Jürgen Bartsch hervor, und diese Tradition setzt sich leider in vielen weniger aufgeklärten Familien noch heute fort.
Prope est ut libenter damnet, qui cito.
Prope est ut inique puniat, qui nimis.
Seneca: De clementia
4 Einleitung zu den Briefen
Gewalt und Verbrechen stellen oft den Versuch dar, vor dem Wahnsinn zu fliehen; und es kann keinen Zweifel daran geben, daß bestimmte psychische Krankheiten eine Flucht sind vor dem Wunsch, Gewalt anzuwenden, oder vor der tatsächlichen Ausführung dieses Wunsches. Klingt es unglaublich, daß Selbstmorde manchmal begangen werden, damit einem Mord vorgebeugt wird? Es gibt keinen Zweifel. Es gibt ihn auch nicht an der Tatsache, daß manchmal ein Mord begangen wird, um einen Selbstmord zu verhindern. Dies ist, nach Auffassung des Täters, die Wahl des kleineren Übels. So seltsam es klingen mag, viele Mörder sind nicht im klaren darüber, wen sie töten – oder, um es anders auszudrücken, daß sie die Falschen töten. Gewiß, jemanden zu töten ist verwerflich genug, aber das Schlimmste daran ist: derjenige, der nach der Meinung des Mörders sterben sollte – und er hat dafür seine Gründe –, ist ein ganz anderer als der, den er tatsächlich angreift … Wir wissen, daß die meisten Gewalttäter eine Kindheit hatten, die von einem brutalen Vater oder einer brutalen Mutter bestimmt war.
Karl Menninger
Am Schluß des Wuppertaler Prozesses hat die Kammer mein Ersuchen um ein Interview mit Jürgen Bartsch abgelehnt. Der Vorsitzende erwähnte ein sensationsbesessenes Boulevardblatt, dessen Vertreterin auch einen Antrag gestellt hatte, und sagte, wenn er einen genehmigte, müßte er alle genehmigen, und das gehe einfach nicht. Ganz beiläufig fügte er einen Satz hinzu, der mein Leben ändern sollte: «Sie können aber an ihn schreiben – dem steht nichts im Wege.» So fing mein Briefwechsel mit Jürgen Bartsch an, der neun Jahre, bis zu seinem Tode, angedauert hat.
Seinen ersten Brief an mich schrieb Jürgen am 23. Januar 1967, den letzten am 21. April 1976, eine Woche vor seinem Tode; am 6. November desselben Jahres wäre er dreißig Jahre alt geworden. Schon in meinem ersten Brief habe ich
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