Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
daran, daß meine Eltern je mit mir gespielt hätten, sie hatten auch keine Zeit. Meine Mutter war im Laden und mein Vater in der Wurstküche. Ich habe ihn kaum gesehen.
Außerdem habe ich als Kind, als Kleinkind schon, immer furchtbare Angst vor seiner polternden Art gehabt. Und was mir damals schon auffiel: Ich habe ihn kaum je lachen gesehen. Welches Kind möchte mit einem mürrischen Vater spielen? (Das soll kein Vorwurf gegen meinen Vater sein, denn heute weiß ich: niemand kann aus «seiner Haut».) Da habe ich eher schon mit dem Gesellen gespielt, den wir damals hatten und der so kinderliebwar. Und er konnte so schön singen. Jedesmal, wenn er sang: «Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand, und das Zaumzeug liegt gleich nebenan …», dann kamen mir die Tränen.
Ich war etwa fünf, glaube ich, da war ich ein paarmal in einem Kindergarten. Dieser [Kindergarten St. Ludgerus] war in einem weit entfernten Stadtteil [Rüttenscheid], und ich hatte kein einziges der Kinder vorher gesehen. Ich war ein sehr schüchternes und sehr ängstliches Kind (wenn ich die Ursache dazu suchen sollte, würde oder müßte ich sie wohl im strengen Regiment meiner Mutter suchen, ich sage strengen, nicht etwa ungerechten, und nicht zuletzt im Einzelkinddasein) und fand darum nicht den geringsten Anschluß an die anderen, wie später auch in der Schule, wie fast in meinem ganzen Leben. Nur ein paarmal war ich da, dann sahen meine Eltern wohl ein, daß es keinen Sinn hatte. Noch etwas: In den Kindergärten oder auch in der Volksschule sind meist Arbeiterkinder. Zumindest der große Teil.
Meine Eltern waren nun und sind nun sehr gebildet, wenn ich mal so sagen darf. Wenn solche Leute nur ein Kind haben, versuchen sie sehr oft, ihr Kind schon von klein auf ebenso zu erziehen, also «standesgemäß», und gerade das halte ich für einen großen Fehler, zumal wenn dieses Kind zuerst auf die Volksschule soll. Denn ungewollt (zumal wenn das Kind nicht mit anderen zusammenkommt) färbt die Bildung weniger oder auch mehr ab, und in diesem Fall wird dann die Bildung und der gute Wille zum Drama. Denn wenn dieser Junge in die Schule kommt und sich gern Kameraden suchen möchte, findet er gar nichts dabei, von «Intelligenz», «hygienisch», «phänomenal» usw. zu sprechen, und merkt gar nicht, daß die anderen kein Wort verstehen. Und merkt gar nicht, wie schrecklich altklug er wirkt. Und merkt gar nicht, daß er bei allen anderen als Spinner und «Angeber» für immer unten durch ist. Es ist traurig, aber wahr: solch ein Junge ist ein kleiner, alter Mann und wird es im Leben sehr schwer haben, wenn nicht daran zerbrechen. Denn wenn er sich selbst die Diagnose stellen kann, ist es meist zu spät.
Ob meine Eltern damals irgendeine andere Lösungsmöglichkeiterwogen, als daß ich in ein Heim kam, weiß ich nicht, wenigstens glaube ich es nicht. Und ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Eine Möglichkeit, rein theoretisch, wäre gewesen, daß meine Mutter sich nun voll meiner angenommen hätte. Aber entschuldigen Sie, daß ich lache – das war damals schon völlig unwahrscheinlich. Das ist sicherlich niemals in Betracht gezogen worden, und mir selber kommt das auch völlig unwahrscheinlich vor. So viele Gefühle hatte sie ja für mich gar nicht übrig, so übertrieben war das ja alles gar nicht. Meinen Eltern ging das Geschäft auf jeden Fall vor. Sie verdienten schon damals sehr gut.
Eine andere Möglichkeit wäre z. B. eine Erzieherin gewesen, aber das käme vielleicht darauf an, was vielleicht teurer wäre, das Heim oder eine Erzieherin. Ehe sie mich ins erste Heim schickten, haben mich meine Eltern nie ärztlich oder psychologisch untersuchen lassen. Jeden Tag gab es Streit zwischen meinen Eltern, jeden Tag haben sie sich angeschrien, und das wird auch heute nicht anders sein. Sie brüllten sich an, der Eine sagte: «Deine Erziehung!», und der Andere sagte: «Deine Erziehung!» Sie warfen sich gegenseitig vor, daß der Andere Schuld hätte an dem, was bei mir eingetreten war, obwohl sie mich beide nicht erzogen haben. Erziehen heißt, sich mit dem Kind beschäftigen, und das ist überhaupt nicht zutreffend gewesen. Das ist ja Blödsinn, was sie damals gesagt haben. Wenn ich heute zurückdenke, kommt mir manches eher amüsant vor, obwohl es natürlich in Wirklichkeit eher zum Weinen ist. Zum Beispiel: «Das hat er von dir!» oder «Wer weiß, ob er das nicht von dir hat!», und dabei wußten sie genau, daß ich nicht ihr
Weitere Kostenlose Bücher