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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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ihn gebeten, möglichst frei und ungehemmt zu schreiben; ich habe ihm versichert, er könne mich mit nichts schockieren und wahrscheinlich nicht einmal überraschen. Insgesamt hat er mir etwa zweihundertfünfzig Briefe geschrieben. Häufig notierte er kein genaues Datum, sondern nur den Monat: Jeder Brief mußte ja durch die Zensur der Justiz, und er konnte nie wissen, wie viele Tage – oder Wochen das in Anspruch nehmen würde.
    Meine eigenen Schreiben an Jürgen – vielleicht noch umfangreicher als seine Antworten – habe ich hier auf einen minimalen Kommentar reduziert, damit möglichst unbeeinträchtigt die Hauptperson zu Wort kommt. Ich finde seine Antworten ausführlich genug; der hellhörige Leser wird kaum einen analytischen Kommentar dazu brauchen. Im ersten Brief habe ich alle seine orthographischen Fehler
(das/​daß, bz.w./​bzw.
usw.) absichtlich unkorrigiert gelassen, damit der Leser einen «Fingerabdruck» von seiner Schreibweise bekommt. Sonst habe ich lediglich die Briefe und Ausschnitte aus Briefen thematisch und chronologisch geordnet.
    Ein paar Namen habe ich aus rechtlichen Gründen ändern müssen.
    In seinem fünften Brief an mich, vom 1.   Mai 1968, hat mich Jürgen gebeten, ihn zu duzen, und ungefähr zur Zeit des zweiten Prozesses begann er zögernd auf mein Angebot einzugehen, mich zu duzen.
    Sehr viele Menschen haben mich gefragt, warum ich soviel Zeit und Energie neun Jahre lang einem vierfachen Kindermörder widme. Mein Motiv entstand schon während des ersten Prozesses aus meiner Besorgnis, daß eine rückständige und uninformierte Justiz keine andere Lösung für einen schwerkranken jungen Bürger finden konnte, als ihn zu bestrafen – Fortsetzung der Hexenprozesse in vergangenen Jahrhunderten, als die Frommenversuchten, aus den Leibern von kranken Menschen Teufel herauszumartern.
    Den Briefwechsel habe ich auch geführt in der Hoffnung, dadurch möglicherweise dazu beizutragen, daß heutige Eltern, nicht nur in Deutschland, ihre Kinder ein bißchen verständnisvoller behandeln als frühere Generationen.

5  Briefe I
    Ich halte mich für gänzlich unaggressiv, soweit es sich nicht um die Sexualität handelte.
    Jürgen Bartsch, Oktober 1969
     
    An einen wirklich guten Traum kann ich
    mich überhaupt nicht entsinnen.
    Jürgen Bartsch, Juli 1969
     
    [Als Jürgen zum erstenmal an mich schrieb, hatte er von Rechtsanwalt Möller irrtümlich vermittelt bekommen, ich sei «psychoanalytisch ausgebildet» und ein «Fachmann»; das habe ich natürlich richtiggestellt.]
     
     
    Wuppertal, den 23.   1.   1968
     
    Lieber Herr Moor!
    Zuerst einmal den allerherzlichsten Dank für Ihre liebe Karte vom 9.   1.   68 und auch für das Weihnachtstelegramm vom 24.   12.   67, daß mir sehr viel Freude gemacht hat. Von Weihnachten und Silvester habe ich in diesem Jahr nicht viel verspürt. Und selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich um diese Zeit herum gar keinen Brief schreiben können, ich bin ja bis heute noch nicht richtig wieder beisammen. Warum? Ich will es Ihnen schildern, nicht etwa, um Mitgefühl zu erregen, sondern weil es für Sie evtl. ganz interessant ist, da Sie ja psychoanalytisch ausgebildet sind, wie Herr Möller mir sagte.
    Mein gröster Fehler war es wohl, während der ganzen Zeit des Prozeßes alle Kräfte zusammenzunehmen, um unbedingt «durchhalten» zu können. Und es wurde mir dann ja auch immer wieder ein «unwahrscheinliches Durchstehvermögen» bescheinigt. Dasstimmte aber nicht ganz. Es war nur der eiserne Wille, der mich alles so lange ertragen ließ. Darum entstand wohl auch das Bild vom gefühllosen, «eiskalten» Jürgen Bartsch, der in Wirklichkeit alle Mühe hatte, nicht doch umzufallen. Daß ich das Ganze körperlich und seelisch nicht ohne Schaden überstanden hatte, merkte ich erst, wie das ja immer so ist, zu spät, nämlich am Abend des 15.   12. [das war der letzte Tag des Prozesses]. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ich bekäme keine Luft mehr, und müßte ersticken. Als es gar nicht mehr auszuhalten war, bat ich um einen Arzt, was ich noch nie getan hatte. Es kam ein Sanitäter, Herr Schulz, mit dem ich mich sehr gut verstehe. Er stellte fest, daß ich stark erhöhten Pulsschlag hatte, wahrscheinlich durch die Angst, und war in der Nacht noch zweimal da. Jedoch die Atemnot blieb, obwohl es mir zu dumm war, deswegen in den nächsten Tagen schon wieder nach einem Arzt zu rufen.
    Aber in der Nacht vor Heiligabend war es dann gar nicht mehr

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