Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
auszuhalten, ich bekam nur noch Luft, wenn ich saß oder stand, aber nicht mehr, wenn ich lag. Der Notarzt von W.-tal kam und gab mir eine starke Beruhigungsspritze, so daß ich in dieser Nacht wenigstens etwas schlafen konnte. Ich flehte ihn an, mir doch zu sagen, was es sei. Aber er gab mir keine Antwort. Man konnte ihm ansehen, daß es ihm schon schwer genug fiel, mir überhaupt zu helfen. Doch kann ich ihm böse sein? Als am Heiligabend mittags der Abteilungsbeamte sah, wie es um mich stand, war ich kaum in der Lage, zu sprechen. Herr Loose, so heißt er, besorgte ohne viele Worte ein paar «Librium forte», starke Beruhigungstabletten, für Nerven u. Gehirn, welche ich seit dem Tag dreimal täglich bekomme. Sogar bekommen muß.
Vor etwa zwei Wochen bestellte mich der Arzt zu sich und ich sagte ihm, daß ich gar nicht so begeistert sei, immerzu Tabletten nehmen zu müssen. «Sie müssen sie aber noch eine zeitlang nehmen, weil Sie zur Zeit einen Nervenschaden haben. Das legt sich aber mit der Zeit wieder. Auf jeden Fall kommt so etwas schneller, als es verschwindet!», sagte der Arzt. Aber was ich denn nun eigentlich hätte, fragte ich; wir haben uns dann etwas darüberunterhalten und er erklärte mir: «Wahrscheinlich ist es ein psychisch, also nervlich bedingtes Herz-Asthma. Wir Ärzte nennen das eine Pseudo-Angina-pectoris. Pseudo, weil die Krankheit selbst zwar echt, also organisch ist, Herzkranzgefäßverengung usw., nur eben kein echter auslösender organischer Fehler vorhanden ist. Der Körper belügt sich also selbst, wie das meist mit nervlich bedingten Krankheiten ist. Das heißt aber nicht, daß man so etwas nicht ernst nehmen soll. Im Gegenteil.»
So, nun weiß ich wenigstens genau Bescheid, wenn es auch nichts nützt. Seit ich aber diese «Librium»-Tabletten bekomme, kann ich es wenigstens ‹aushalten›, wie man so sagt. Zwar läßt sich so etwas nicht ganz ausschalten, aber ich kann doch jetzt wieder Radio hören und lesen, dazu war ich, Weihnachten noch, kaum imstande. Sie sind ja ein Fachmann, Sie kennen ja die Symptome, die außerdem noch auftreten. Ich habe sie alle kennengelernt. Heute weiß ich, was Depressionen sind; wenn einen die normalsten Körperfunktionen bis aufs Blut reizen. Wenn man das Gefühl hat, die Zunge läge gleich einem Sack Zement im Mund, wenn die Augenlid-Nerven anfangen, zu zittern, so daß es nicht möglich ist, zu lesen und so weiter. Bis zu den «weißen Mäusen» und den Taranteln, die von der Decke hüpfen, ist es dann nicht mehr weit.
Heute ist es ja Gott sei Dank nicht mehr so schlimm, wie es war, nur die Herzbeklemmung, und dadurch die Luftnot, ist geblieben, aber da helfen die Tabletten viel. – – – –
Wenn mir jemand früher gesagt hätte, daß die Nerven einem Menschen so zu schaffen machen können, hätte ich es nicht geglaubt. Ach was, gelacht hätte ich. Man ändert seine Meinung meist erst, wenn man es am eigenen Leibe erfahren hat. – – – –
Aber wie alles zwei Seiten hat, so auch dieses. Nachdem Sie dies alles wissen, wird es Sie wahrscheinlich nicht wundern, wenn ich Ihnen schreibe, daß ich seit dem 15. 12. nicht das geringste von meinem Trieb gespürt habe. Aber das ist unter diesen Umständen wohl nicht so verwunderlich. Obwohl ich dafür bete, das es (mit dem Trieb) so bleibt. Ich habe wirklich große Angst, daß der Trieb sofort wieder da ist, wenn ich keine Beschwerden mehr habe.
Hoffen wir das Beste.
Nachdem ich soviel über mich selbst geschrieben habe: Es tut mir aufrichtig leid, daß Sie mich nicht besuchen dürften, ich hatte so halb damit gerechnet, daß Sie kommen dürften, weil ich Sie für sehr seriös halte und weiß, daß das Gericht keine andere Meinung hat. Aber es war natürlich schwierig, das werden Sie sicher verstehen. Aber ich hoffe, genau wie Sie, daß es doch noch klappen wird.
Und damit verbleibe ich bis zum nächsten mal mit vielen herzlichen Grüßen
Ihr Jürgen Bartsch
***
[Hier schreibt Jürgen zum erstenmal über Diebstahl – bekanntermaßen häufiger Ersatz für entbehrte Liebe.]
Wuppertal, den 25. 2. 1968
Lieber Mr. Moor!
… Eben weil ich nicht mit anderen spielen durfte, durfte ich auch nicht vor die Tür, nur einmal in der Woche kam meine Oma und ging mit mir spazieren, oft in dem Grugapark. Dort habe ich mich nur für die Tiere interessiert und für die kleinen Bummelzüge, die damals schon dort fuhren. Zu Hause war ich immer allein, erinnern kann ich mich nicht
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