Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
er es gar nicht gekonnt hätte. Wer ein wenig Menschenkenntnis hat, hätte bei Gericht sofort merken können, daß der oberflächliche Eindruck, den meine Eltern machten, völlig «spiegelverkehrt» war. Mein Vater ist laut, weil er im Grunde sogar schüchtern ist, das merkt man am besten daran, daß er normalerweise sehr menschlich empfindet, es aber nicht zeigen kann, «er kann sich nicht erklären», so nennt man es wohl. Wie wenig von dieser äußerlichen «Härte» echt ist, habe ich voll und ganz erst bei der Verhandlung verstanden, darum habe ich auch so weinen müssen.
Auf der anderen Seite ist meine Mutter in Wirklichkeit vom Wesen her zwar sicher innerlich von Herzen gut, aber trotzdem stimmte der Eindruck, den sie vor Gericht machte, keinesfalls mit der Wirklichkeit überein, die ich erlebt hatte. Ich habe sie innerlich nie verstehen können. Ich weiß, wie sehr sie mich liebte und noch liebt, aber ein Kind, so dachte ich immer, muß das auch spüren.
Nur ein Beispiel (es ist keinesfalls ein Einzelfall, so etwas habe ich oft erlebt): Meine Mutter fand absolut nichts dabei, mich in einer Minute in den Arm zu nehmen und zu küssen, und in der nächsten Minute sah sie, daß ich aus Versehen die Schuhe anbehalten hatte, nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank und zerschlug ihn auf mir. In dieser Art etwa geschah oft etwas, und jedesmal zerbrach irgend etwas in mir. Diese Behandlung, diese Dinge habe ich nie vergessen können und werde es nicht können, hier stehe ich und kann nicht anders. Mancher würde sagen, ich sei undankbar, das stimmt wohl kaum, denn dies alles ist nicht mehr und nicht weniger als der Eindruck, der ehrliche Eindruck, den ich habe, und die Wahrheit sollte eigentlich besser sein als fromme Lügen.
Natürlich war, als ich «allein» in der Kellerwohnung in der Goethestrasse war, jemand, etwa ein Hausmädchen, da. Aber daswurde schon von meiner Mutter sehr mit Arbeit versorgt, so daß ich meist in meinem Zimmer saß und mit Stofftieren spielte oder Radio hörte.
Die polternde, laute Art meines Vaters zu definieren ist mir zwar heute möglich, ich tat oder versuchte es eben, aber was mich als Kind so erschreckt hat, ist wohl die Tatsache, daß er, soweit ich mich erinnern kann, infolgedessen niemals mit mir gespielt hat. Das war schon eine erschreckende Tatsache für mich. Wie sie [sic] sich mittlerweile an fünf Fingern abzählen können, hatte ich also meist nichts zu tun. Oft saß ich schon als Sechsjähriger unter dem Tisch im Wohnzimmer und sang die neuesten Schlager, die ich im Radio hörte. Mancher mag das lustig finden, ich selbst könnte heulen, wenn ich heute daran denke.
Meine ersten Erinnerungen? Ich weiß noch, daß ich in den ersten Jahren, etwa bis vier Jahre alt, in einem Kinderbett im großen Schlafzimmer geschlafen habe. Aber an etwaige Begebenheiten dabei (außer der mit dem Dienstmädchen) kann ich mich nicht erinnern. Die nächsten Erinnerungen habe ich an meine Oma und die schönen Spaziergänge, die sie mit mir machte (die Mutter meiner Mutter). Sie ist vor kurzem gestorben, und nun habe ich noch eine Oma, die Mutter meines Vaters. Mit ihr kann man auch ganz gut auskommen.
Übrigens: mit den Worten hygienisch usw. gab es keine Begebenheiten, zumindest weiß ich es nicht mehr. Und zu Ihrer Frage, wegen der «Bildung»: Wahrscheinlich stimmt das Wort Bildung nicht ganz mit dem überein, was ich ihnen [sic] sagen wollte. Meine Eltern haben keinerlei höhere Schule besucht, was ja oft als unerläßlich dazu angesehen wird. Ich meinte den Unterschied zwischen den (sogenannten) ganz einfachen Arbeiterfamilien, die ja in der Volksschule 90 % ausmachen, und des einfachen Mittelstandes, der sich (da machten meine Eltern keine Ausnahme) ja bekanntlich den Arbeitern haushoch überlegen fühlt.
Tatsache aber ist nun einmal, daß der Mittelstand eine ganz andere Sprache spricht. Auf einen kurzen Nenner gebracht: ein Herr Moor und auch Herr Bartsch können sich zehnmal eher miteinem Professor unterhalten als ein Bergmann. Das ist zwar sehr vergröbert, aber im Prinzip, meine ich, stimmt es schon. Okay?
Dazu kam bei mir noch, daß mir ganz früh schon beigebracht wurde, mit wem ich in der Schule spielen durfte und mit wem nicht. Aus Prestigegründen sozusagen. Auch später im Geschäft war es nicht anders, als ich mich mit den Angestellten sehr gut vertrug, auch persönlich, hieß es oft: «Natürlich muß man seine Angestellten anständig behandeln, aber ich verstehe
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