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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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leibliches Kind war. Deswegen waren solche Ausbrüche eher komisch.
     
    [Jürgens spezieller Angstgegner aus seinen ersten vier Schuljahren, der «dicke Beckmann», später Gastwirt in Essen, erzählte in einem Telefongespräch mit mir über seine damalige Rolle in Jürgens Leben: «Er wurde immer ein bißchen jähzornig, da haben wir uns immer amüsiert, daß er so wild um sich trat und strampelte.Dann hat er auch gebissen. Geschlagen haben wir alle, aber er biß dann immer zu und strampelte. Er schmiß seine Butterbrote an einer Baustelle weg, das hat unser moralisches Empfinden immer etwas angegriffen, und da hat er wohl von einigen Senge gekriegt. Ich meine, damals war die Zeit noch gar nicht so rosig, ganze fertige Pakete schmiß er weg. Und dann, wenn einer ein Einzelgänger ist, hat man natürlich schon Spaß, ihn zu reizen, daß er dann richtig so schön wild wird. Das ist natürlich für alle eine Belustigung.»]
     
    Ich habe meine Oma immer sehr geliebt. Leider ist sie im letzten Jahr schon verstorben, sie hat alles noch erfahren müssen. Sehr gern ging ich mit ihr spazieren und etwas später, als ich in der Schule war und jeden Tag woanders in der Gegend herumlaufen mußte, habe ich auch oft einen Tag in der Woche bei ihr in Essen-Werden geschlafen. Nur eins kann ich mir nicht verzeihen: als es in der Schule immer schlimmer wurde und ich bald jeden Tag von einem anderen verprügelt wurde, habe ich aus reiner Verzweiflung aus ihrem (Omas) Geldbeutel mehrmals eine Mark gestohlen, damit ich diese dem Stärksten in der Klasse geben konnte, er hat mich dann eine Zeitlang «beschützt». Oma hat es immer gewußt und nie etwas gesagt. Vielleicht ahnte sie, wofür.
    Mit den Hausangestellten habe ich mich immer sehr gut vertragen. Mit einem der Mädchen sogar besser als mit meinen Eltern. Das finde ich unter den Umständen damals ganz natürlich. Als eines Tages das Mädchen heiraten sollte und gehen mußte, konnte ich es nicht fassen, nicht begreifen, nein, das durfte doch nicht sein. Ich lag im Kinderbett, als sie es mir sagte, wir weinten beide furchtbar, ich wollte sie einfach nicht gehen lassen, und es hätte am Ende nicht viel gefehlt, und sie wäre doch geblieben   … das sind so Dinge, die man nicht vergißt.
    Nun möchte ich Sie zum Schluß doch noch bitten, vielleicht Ihr Angebot wahrzumachen und mir in etwa zu schreiben, wie dieses Training [«PBX», ein Körperertüchtigungsprogramm der Königlichen Kanadischen Luftwaffe] vor sich geht, von dem Sie mirschrieben. Allein körperlich könnte ich es sehr gut gebrauchen, denn ich habe das Gefühl, ich werde «immer weniger». Vielen Dank im voraus. Ich freue mich schon sehr auf Ihren nächsten Brief und bleibe
    mit den besten Grüßen Ihr
    Jürgen Bartsch
    ***
    [Beachtenswert ist das Wort «verständlicherweise» im folgenden Brief; daraus könnte man schließen, daß sich Jürgen eine andere Art Mutter als seine kaum vorstellen konnte. Bemerkenswert ist auch seine ausdrückliche Versicherung, daß sein Vater, egal, wie «laut» und «bullig» er sei, ihn als Kind nie geschlagen habe. Dieser Brief enthält die erste aufschlußreiche schriftliche Fehlleistung: er meint
Sie
und
Ihnen,
schreibt aber
sie
und
ihnen.
Er schrieb zwar an mich, aber sein Unbewußtes schien mit seinen Eltern beschäftigt gewesen zu sein: so gelesen, nehmen diese beiden Sätze eine ganz andere Bedeutung an. Seine Erwähnung des «einfachen Mittelstandes, der sich ja bekanntlich den Arbeitern haushoch überlegen fühlt», erinnert daran, daß seine Adoptiveltern anfangs extra dafür bezahlt hatten, daß der Neugeborene mit «allen möglichen» anderen Babys auf der Wöchnerinnenstation des Essener Krankenhauses nicht in Berührung kam.]
     
     
    Wuppertal, den 18.   März 1968
     
    Lieber Mr.   Moor!
    … Es kommt, so glaube ich, darauf an, wie man das Wort «allein» versteht. Zumindest ich verstand es damals so: Meine Eltern waren in der Regel tagsüber für mich nie erreichbar. Natürlich rauschte mal ab und zu meine Mutter im Eilzugtempo an mir vorbei, aber sie war verständlicherweise für ein Kind nicht ansprechbar. Den Mund aufzumachen wagte ich kaum, denn ich stand überall im Weg und das, was man Geduld nennt, hat meine Mutter nie gezeigt.
    Es ist oft passiert, daß ich Schläge bekam, aus dem einfachen Grund, weil ich sie etwas fragen oder bitten wollte und ihr dabei im Weg war. Von meinem Vater bin ich übrigens als Kind niemals geschlagen worden, heute weiß ich, daß

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