Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Bibel lautet diese Stelle (Matthäus 23,37): «Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten, und steinigest, die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt.»]
Es macht mir schwer zu schaffen, wie ich schon im letzten Brief schrieb, nicht erwachsen sein zu wollen (ich will es tatsächlich nicht) und noch einmal alles neu, alles besser zu machen,
wieder Junge zu sein
[diese vier Wörter doppelt unterstrichen], einer unter vielen, aber einer, der ein paar Freunde hat, mit denen er Pferde stehlen kann, einer für alle, alle für einen.
Meine besten Freunde waren damals oft die französischen Pfadfinder-Jungenromane aus den Jahren 1936 – etwa 1960. Gedruckt wurde das letzte Buch dieser Reihe Ende 1966, dann liefdie Serie ganz aus. Diese französischen Romane wurden, wohl nur mit Karl May vergleichbar, im Alsatia-Colmar-Verlag verlegt, und in -zig Sprachen übersetzt. In Deutschland nannte man sie «Spur-Bücher». Na, wahrscheinlich haben auch Sie in Ihrer Jugend mal ein Buch mit diesem Zeichen gelesen: [Hier zeichnete er ein Dreieck – die Silhouette eines Tipis? – mit Pfeilchen nach links].
Aus dieser Reihe stammt ein Buch, das ich als eines der besten empfinde, welches ich je gelesen habe. Ich habe geheult wie ein Schloßhund, als ich es bei meiner Tante las. Nun war dieses Buch, wenn ich heute zurückschaue, aber auch nicht etwa im Kinderbuch-Stil geschrieben, auch die Probleme, die es enthielt, waren nicht dieser Natur.
Es ging um zwei Pfadfinder-Freunde, die sich erst im Zeltlager eines Schlosses kennenlernten, um Erik und Christian. Erik war adelig und fühlte sich an einen Schwur gebunden, welchen er seinem Vater auf dem Sterbebett abgegeben, geleistet hatte. Durch diesen Schwur, bzw. das Problem, welches dadurch zwischen ihnen auftaucht, nämlich die Todfeindschaft der beiden Familien der Jungen, kommt Christian in Lebensgefahr. Er fällt dem Schwur, so scheint es, zum Opfer. Erik hat es nun in der Hand, seine «Familienehre» zu bewahren, d. h. den Freund sterben zu lassen, oder sein Wort gegenüber dem Vater zu brechen. Er sieht keinen Ausweg, als selbst zu sterben. Dies, wie ich meine, wunderbare Buch, war meine «große Liebe». Es heißt «Der goldene Armreif», geschrieben von Serge Dalens, übersetzt von Roger Guiscard.
Damals, das Buch gehörte noch nicht mir, und ich hatte kein Geld, und die Ferien waren bald vorbei, ich mußte also bald wieder nach Essen, aber konnte ich ohne dieses Buch sein?
Nein.
Ich schrieb es, Wort für Wort, ab. [Im Laufe der Zeit bekam Jürgen ein eigenes Exemplar, das ich heute besitze; das Buch hat 195 Seiten.]
Vielleicht konnte ich Ihnen damit sagen, daß es keine Einbildungist, wenn ich heute sage, daß es kaum etwas Einsameres, Trostloseres gibt, als ein Kind, das in Buchzeilen etwas Liebe suchen muß.
4.) Wissen Sie, ich möchte den guten Mann [PaPü] vergessen, darum rede u. schreibe ich nicht gern von diesen Sachen. Natürlich hat er dergleichen getan, das war übrigens der schlimmste Teil für mich, das ist wohl klar. Also bei ihm dasselbe wie er bei mir. Am gemeinsten fand ich, daß er alles das getan hat, obwohl ich starkes Fieber hatte.
Wenn ich heute so über all das nachdenke, erscheint es mir wie eine Art makaberer Ironie, daß ausgerechnet PaPü es war, der mir öfters von Sire Gilles de Ry … (den richtigen vollen Namen kenne ich nicht mehr) erzählte. Dieser Feldherr lebte in Frankreich, so um das 15. Jahrhundert. Zwischen den Kriegen betätigte er sich vorwiegend als Kindermörder, nachdem er seine Frau + seine Tochter fortgejagt hatte. Er entführte mit seinem Rittergefolge (viele machten scheinbar mit) von Dörfern, Märkten, Gassen usw. Bettler + Bauernjungen, nur Knaben, meist im Kindesalter; sie entführten die Jungen also, nahmen sie mit auf’s Schloß, dort entkleideten sie sie, vergingen sich an den Kindern, folterten sie, brachen ihnen die Knochen, schlitzten ihre Leiber auf und untersuchten die inneren Organe. Die Überreste verbrannten sie im Kamin und «wuschen das Blut von Händen und Wänden», wie PaPü nie vergaß, zu erwähnen.
[
Der Spiegel
hatte in seiner Nummer 13/1968 – etwa dreieinhalb Monate vorher – eine Rezension über das Buch
Gilles de Rais: Leben und Prozeß eines Kindermörders
von Georges Bataille veröffentlicht, das beim Merlin Verlag in Hamburg eben
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