Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
zum Landesprovinzial gemacht, also «befördert». Er stand jeden Abend als liebenswürdige kleine schwarze Tonne im halbdunklen Eingang zum Schulhaus, über seinem Kopf eine kleine Lampe, die kaum Licht gab, und er sprach mit uns, wie wohl mit manchen von uns noch niemand gesprochen hatte, und wohl keiner wird es vergessen, wie sie waren, diese Gespräche im Zwielicht mit einem Menschen, der nichts anders konnte als Geben; das war sein Leben, er wollte und konnte nicht anders. Ein Mann, der von jedem Psychologen als zwar intelligent, doch im Gefühlsleben völlig naiv, infantil und weichlich bezeichnet würde, dem Alltagsleben nicht gewachsen …
Er brauchte eine heile, kindliche Welt, um leben zu können, und wir brauchten ihn, es reichte, daß er jeden Abend dort stand. Er wäre lieber gestorben, als eins von uns zu schlagen, ganz zu schweigendavon; daß er auf diesen Gedanken niemals gekommen wäre. Fünf oder sechs Kinder standen wenigstens bei ihm, und nicht einer, der keine Frage, kein Anliegen, keine Bitte gehabt hätte.
Einer hat Zahnschmerzen, der Direktor besorgt die Behandlung noch am selben Abend. Der nächste zeigt seine Kette vor, von der er das Medaillon verloren hat. Darf er ein neues haben? Am nächsten Tag schon bekommt er es. Einer weint, seine Mutter hat ihm seit sechs Wochen nicht geschrieben. «Um Gottes willen», sagt der Direktor, und in seinem Ton ist nichts Falsches, er wird es nie verstehen, daß es Eltern gibt, die ihre Kinder vergessen. Also kann es so schlimm nicht sein, er tröstet den Jungen und verspricht ihm, sich darum zu kümmern, morgen wird er der Mutti schreiben …
Nur genommen haben wir von ihm, geben konnten wir ihm nur unsere Liebe, und bedingungsloses Vertrauen ihm selbst gegenüber. Wir liebten ihn, obwohl wir wußten, daß er ein «Weichling» war; ein Weichling aus Liebe, darum wäre er auch Lieblosigkeit unsererseits hilflos ausgeliefert gewesen. Aber wir wären für ihn durch’s Feuer gegangen, niemand von uns, auch der rauheste Bursche nicht, hätte ihm weh tun können. Denn gibt es eine größere Autorität als die selbstloser Güte? … Requiescant in pace …
26. Wolltest Du jemals studieren? Warum kam es nicht dazu?
Nein, ich kann «nicht rechnen», und so fiel das ja sowieso aus. Meine Eltern hätten es allerdings gern gesehen, wenn ich studiert hätte.
27. Erzähl ein bißchen von der Berufsschule.
Das war wohl 1961 – 64, einmal in der Woche, stets freitags, von 8 – 12.40. Danach hatte ich für den Tag frei. Von meinen Mitlehrlingen kannte ich nur H., der bei uns im Geschäft in der Lehre war. Mit den anderen Lehrlingen hatte ich keinerlei Kontakt. Ichhatte es inzwischen aufgegeben, Kontakt zu suchen. Ich interessierte mich, entmutigt, nicht mehr dafür.
D. Berufliche Geschichte
28. Erzähl von dem ersten Geld, das Du selber verdientest.
Das war 1961, 5 DM Taschengeld in der Woche. Das ging fast ganz für Coca-Cola, Fahrgeld und in bißchen Süßes von der Bude drauf. Von meiner Mutter bekam ich auch mal 5 DM, dann ging ich in’s Bad, Kino usw.
29. Erzähl bitte – chronologisch – von der Arbeit, für die Du Geld bekamst, mit Daten und Summen.
Da meinen Sie Nebenbeschäftigungen? Damit war nichts, nur für Zeugnisnoten bekam ich was, 2 DM für sehr gut, 1 DM für gut, 0,50 für befriedigend.
30. Erzähl genau, wie und warum Du von dem Fleischer van Loon weggingst.
Meine Schulentlassung in Langenberg folgte im Frühjahr 1961. Mein Vater hat mich damals gefragt: «Na, nun willst du was werden?» Ich sagte: «Überhaupt nichts werden, ich habe keine Ahnung.» Ich hatte mich für einen Beruf nicht interessiert und habe mir darunter nichts vorstellen können. Ich wäre viel lieber weiter zur Schule gegangen, lieber Junge geblieben, als nun in Richtung «erwachsen» hin. Das hat mich nie so sehr fasziniert. Die ganze Berufslehre kotzte mich eher an.
Nun bin ich aber dann zuerst bei einem anderen Metzgermeister in die Lehre gegangen, aber nur ein paar Wochen. Das hat mir insofern gut gefallen, als ich da eben richtig Junge noch sein konnte. Da haben wir morgens zwar früh angefangen, um sechsUhr, aber wir waren oft schon um zwölf Uhr mittags fertig. «Ist ja prima!», habe ich gedacht, «ist ja wie in der Schule!» Das habe ich leider meinem Vater gegenüber erwähnt, und es hat ihm überhaupt nicht gefallen.
Er war richtig sauer. Ich
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