Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
an.
Eine unerwartete Situation war es auch, als hier mal ganz plötzlich der Justizminister auftauchte. Er stellte ein paar Fragen, ich gab Antwort, aber alles war wie so ein Traum, wissen Sie, als ob es irgendwie «nicht echt» sei. Erklären kann ich das nicht.
130. Ist Dir wichtig, was andere über Dich sagen? Denken?
So wichtig, wie jedem Anderen auch. Ich kann natürlich nur von früher sprechen. Daß die Anderen allzu gut über mich sprechen würden, habe ich nie gedacht, dazu war ich in allem zu farblos. Noch wahrscheinlicher war es da doch, daß sie überhaupt nicht über mich redeten oder an mich dachten. Ich werde ihnen wohl ziemlich egal gewesen sein. Daß sie früher besonders schlecht über mich geredet hätten, glaube ich nicht. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das eine Sache, wo ich, glaube ich, nicht viel dran gedacht habe. Na und heute denken ja doch die meisten das gleiche, nämlich das Schlechteste über mich, da muß man sich mit abfinden. Ist mir das «egal»? Egal ist mir das sicher nicht, aber ich kann es nicht ändern, und außerdem glaube ich nicht, daß eine «Masse» als solche über jemanden urteilen kann, da wird ja doch ein Scherbengericht draus.
131. Wann bist Du am glücklichsten? Am traurigsten? Bitte ein paar Beispiele von beidem erzählen.
Am glücklichsten oder am traurigsten? Das heute ist ja nicht das «Normale», also muß ich da wieder von früher sprechen.
Am traurigsten bin ich, wenn ich zu Hause bin, wo alles so steril ist, daß man bald auftreten muß nur auf Zehenspitzen, ist ja alles soooo sauber, wenn es heiliger Abend ist, und ich gehe runter ins Wohnzimmer, viele Geschenke sind da für mich, ist ja ganz toll, und wenigstens an diesem Abend beherrscht meine Mutter einigermaßen ihr Wechselbad-Temperament, so daß man meint, vielleicht kannst du heute Abend mal Deine (also meine) eigene Schlechtigkeit etwas vergessen, aber es knistert irgendeine Spannung in der Luft, so daß man weiß, es wird ja doch wieder Scheiße; wenn man wenigstens ein Weihnachtslied singen könnte, und die Mutter sagt: «Nun sing doch mal ein Weihnachtslied», und ich sage: «Ach laß doch, kann ich nicht, da bin ich doch auch viel zu groß für», aber denken tu ich: «Kindermörder singt Weihnachtslieder, da soll man nicht verrückt werden.» Ich packe meine Geschenke aus und«freue» mich, zumindest tue ich so. Mutter packt ihre Geschenke aus, die von mir, und freut sich wirklich.
Inzwischen ist das Essen fertig, Hühnersuppe mit dem Huhn drin, und der Vater kommt, zwei Stunden nach mir. Er hat bis jetzt gearbeitet, wirft Mutter irgendein Haushaltsgerät vor die Füße, ihr kommen die Tränen vor Rührung, und er brummt irgendwas, das «Fröhliche Weihnachten» bedeuten könnte. Er setzt sich an den Eßtisch: «Na, wie ist das, kommt Ihr endlich?» Schweigend wird die Suppe gelöffelt, das Huhn rühren wir nicht an. Kein Wort wird gesprochen während dieser Zeit, nur das Radio spielt leise, wie schon seit Stunden. «Die Hoffnung und Beständigkeit gibt Kraft und Trost zu jeder Zeit …»
Wir sind fertig mit Essen, Vater setzt sich auf und brüllt uns an: «Prima, und was machen wir jetzt?», so laut er kann, richtig gemein hört es sich an. «Nichts machen wir jetzt!» schreit Mutter zurück und läuft weinend in die Küche. Ich denke: «Wer straft mich da, das Schicksal oder der «liebe Gott»?, weiß aber sofort, daß das so nicht stimmen kann, und der Sketch fällt mir ein, den ich im Fernsehen gesehen habe: «Dasselbe wie letztes Jahr, Madam?» «Dasselbe wie jedes Jahr, James!!»
Ich frage leise: «Willst Du nicht wenigstens nachschauen, was wir Dir geschenkt haben?»
«Nein!!»
Er sitzt nur da und stiert mit leerem Blick auf das Tischtuch. Es ist noch keine acht Uhr. Ich habe hier unten nichts mehr zu suchen, mache, daß ich auf mein Zimmer komme, laufe da hin und her, und es ist mir ernst mit dem Gedanken: «Springst Du nun aus dem Fenster oder nicht?» Warum habe ich die Hölle hier, warum wäre es besser tot als so was erleben? Weil ich ein Mörder bin? Das kann gar nicht ganz stimmen, es war heute nicht anders als jedes Jahr.
Dieser Tag war immer am schlimmsten, am meisten bewußt war es mir natürlich in den letzten Jahren, als ich noch zu Hause war, da kam an einem solchen Tag alles aber auch wirklich alles zusammen.
Am glücklichsten?
[Nota bene: Dies ist keine echte, erlebte Situation, sondern nur eine allgemeine Phantasie.]
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