Julia Aerzte zum Verlieben Band 60
entspannt wirkte. „Und das Beste ist, hier oben kann man auch hervorragend schreien.“
„Schreien?“
„Oh ja, du kannst hier völlig ausrasten.“
„Ausrasten?“ Zweifelnd hob Edward eine Augenbraue. Honey stand auf und hob den Kopf. Es war etwas kühler geworden, aber das machte ihr in diesem Moment nichts aus.
„Oh ja. Am besten, du schreist direkt gegen den Wind. Es spielt keine Rolle, was. Es kann auch totaler Unsinn sein. Pass auf.“ Sie holte tief Luft, legte die Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme: „Hallo ihr da draußen. Zeit zum Mäusemelken und Fischeausführen. Woohoo.“
Edward lachte. Ihre Ausgelassenheit und Unbekümmertheit war ansteckend.
Honey holte noch einmal Luft und rief: „Hier oben fühle ich mich komplettoselig.“
„Komple-was?“ Er hatte sein Sandwich aufgegessen und stand jetzt auf, um zu ihr zu gehen.
„Komplettoselig“, sagte sie mit normaler Stimme und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das bedeutet, sich vollständig glücklich zu fühlen.“
„Du bist komplett verrückt“, sagte er lachend.
„Oh ja, darum geht’s ja. Jetzt bist du dran. Hol tief Luft und schrei dann einfach irgendwas. Je weniger Sinn es macht, desto besser.“
„Nein, nein, das ist nichts für mich. Aber danke.“ Edward bückte sich, um das Essen zusammenzupacken.
„Edward.“ Honey griff nach seinem Arm. Sie hoffte, dass sie nicht zu weit ging. Sein Widerstand war zwar spürbar, aber er hatte sich ihr heute so weit geöffnet wie noch nie. Kennedy war nie auf ihre Vorschläge und Ideen eingegangen, sondern hatte immer alles abgewehrt. Das war einer der Gründe, warum Honey dieser Ausflug mit Edward so wichtig war.
„Sieh es mal so. Es ist einfach eine kleine Übung im Verrücktsein. Du machst etwas, das du sonst nie tust, etwas, das niemand von dir erwartet. Lass dich einfach mal gehen.“
Edward schaute sie an. Ihm war klar, dass sie nicht so leicht nachgeben würde. Wenn er in der vergangenen Woche etwas gelernt hatte, dann das: Honeysuckle Huntington-Smythe war eine ziemlich entschlossene Frau.
„Na gut.“ Er drehte sich in den Wind, der sich kühl und feucht auf seiner Haut anfühlte. Dann hielt er inne.
„Denk nicht zu viel drüber nach, was du rufst“, sagte Honey. „Schrei einfach das, was dir als Erstes in den Kopf kommt.“
Er nickte und schloss die Augen. Eigentlich konnte er selbst nicht glauben, was er gerade tat. Das war ganz und gar nicht seine Art. Er holte tief Luft, dann rief er: „Kaffeekannen können nicht Karaoke singen.“
Honey lachte begeistert auf. „Sehr schön. Und jetzt noch mal.“
Wider Willen musste Edward selbst lachen. Er breitete die Arme aus und schrie: „Kokosnüsse mit rotem Nagellack sind schön!“
Es war völlig verrückt, aber er fühlte sich wirklich befreit. Einfach Unsinn zu rufen und sich nicht darum zu scheren, ob ihn dabei jemand hören konnte, hatte eine große Last von seinen Schultern genommen. Edward konnte es sich selbst nicht erklären, aber er war Honey zutiefst dankbar, dass sie ihn zu diesem Ausflug überredet hatte. Hätte er das Ziel vorher gekannt, wäre er vermutlich nicht mitgefahren, aus Angst vor den schmerzhaften Erinnerungen an seinen Vater. Jetzt jedoch dachte er darüber nach, dass sein Vater, wenn er noch am Leben wäre, wahrscheinlich neben ihm stehen und ebenfalls lauter Unsinn in den Wind rufen würde. Der Gedanke war tröstend.
„Genau so“, sagte Honey. „Du machst das sehr gut.“ Der Wind war inzwischen stärker geworden, und Nebel zog herauf. Sie blickte sich um. „Das ist wirklich ein besonderer Ort. Ich bin sehr froh, dass wir hierhergekommen sind“, fuhr sie fort. „Danke, dass du mir vertraut hast, Eddie.“
Er nickte und versank einmal mehr in Honeys Anblick. Einzelne Haarsträhnen wehten ihr ins Gesicht, das vor Kälte oder vielleicht auch vor Aufregung gerötet war. „Du nennst mich immer Eddie. Das macht niemand sonst.“ Seine Stimme war heiser vor unterdrückter Erregung.
Honey trat einen Schritt auf ihn zu. „Wenn du mir sagst, ich soll es nicht mehr tun, dann lasse ich es.“
Aber das tat Edward nicht. Er griff nach den Enden ihres Schals und zog sie näher zu sich heran. Lag es daran, dass sie ganz allein auf dem höchsten Gipfel des Landes standen? Hatte ihn die Höhenluft leichtsinnig gemacht? Auf jeden Fall verspürte er ein unwiderstehliches Verlangen nach ihren Lippen. Er wollte wissen, ob sie so weich waren, wie sie aussahen. Er wollte
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