Julia Aerzte zum Verlieben Band 61
ausgesprochen unfreundliche Gedanken über den Vater des Jungen unterdrücken. Konnte der denn nicht sehen, wie unglücklich sein Sohn war?
Sie erinnerte sich daran, dass der Mann erst vor Kurzem seine Frau verloren hatte und vermutlich noch sehr um sie trauerte. Aber sein Sohn hatte schließlich auch seine Mutter verloren.
„Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“ Nat zeigte auf das mitgebrachte Buch. „Es handelt von einem Opossum, und es kommen viele australische Tiere darin vor.“
Julian nickte. „Ich mag Tiere.“
„Hast du ein Tier?“
Traurig schüttelte er den Kopf. „Ich hatte einen Kater. Pinocchio. Aber den mussten wir zu Hause lassen. Papa hat mir versprochen, dass ich eine neue Katze kriege, aber … er hat zu viel zu tun.“
Nat presste den Mund zusammen. „Ich habe eine Katze. Sie heißt Flo. Sie frisst gerne Fisch und macht so ein Geräusch.“
Sie imitierte das tiefe Schnurren ihrer fünf Jahre alten Schildpattkatze. Julian lachte, sodass Nat es noch einmal machte. „Sie ist eine richtige Schnurrmaschine.“ Belustigt wiederholte sie das Geräusch und freute sich über Julians Reaktion.
Während die anderen Kinder um sie herum tobten, schlug Nat das Buch auf und begann laut zu lesen. Julian tauchte sofort in dessen Welt ein. Ein Bild nach dem andern von wunderbar gezeichneten australischen Buschtieren nahm sie beide gefangen. Und als das Buch zu Ende war, bat er Nat, es ihm noch einmal vorzulesen, seine kleine Hand in ihrer.
„Ich sehe, du hast einen Freund gewonnen“, meinte Trudy etwas später. Sie stellte ein Tablett voller Obst auf den Tisch und rief den Kindern zu, sie sollten sich vorm Essen die Hände waschen.
Julian ging mit den anderen in den Waschraum, wobei er sich immer wieder umschaute, ob Nat auch noch da war.
„Das hoffe ich, Trudy“, erwiderte Nat.
Wenn jemand einen Freund nötig hatte, dann der kleine Julian.
Eine Stunde später war der sonst so lebendige Kinderhort angenehm ruhig, da alle Kinder ihren Mittagsschlaf hielten. Nat wanderte durch die Reihen der kleinen Segeltuchbetten, um nach ihren Schützlingen zu schauen, und blieb bei Julian stehen. Weiche Locken umrahmten seine Stirn und die Wangen. Seine leicht gebräunte Haut war zart und makellos, sein Mund bogenförmig geschwungen, und er hatte rosige Lippen wie ein kleiner Engel.
Im Gegensatz zu allen anderen Kindern schlief er allein, ohne irgendein Plüschtier. Seine ernsten Züge vom Schlaf entspannt, sah er so unbekümmert aus wie jeder andere Vierjährige. Nur stimmte das eben nicht. Er war ein mutterloser kleiner Junge, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern zu tragen schien.
Er stieß einen leisen Klagelaut aus, und seine Stirn zog sich zusammen. Liebevoll wollte Nat sie glätten, doch der Junge drehte sich auf die Seite. Dann fand sein Daumen den Weg in seinen Mund. Sogar im Schlaf wirkte Julian allein.
Nat beschloss, mit seinem Vater zu reden, wenn dieser ihn abholte. Sie wollte ihn bitten, dass der Kleine ein vertrautes Stofftier von zu Hause mitbringen konnte. Vielleicht gab es ja auch die Möglichkeit, das Thema psychologische Beratung anzusprechen. Irgendjemand musste etwas für den traurigen kleinen Jungen tun.
Warum also nicht sie?
Am frühen Abend saß Nat mit Julian auf einem Sitzsack und las ihm zum dritten Mal das Buch Possum Magic vor. Die meisten Kinder waren mittlerweile abgeholt worden, daher herrschte Ruhe im Raum. Die wenigen Kinder, die noch warteten, beschäftigten sich still.
Nat hatte versucht, Julian mit den anderen Kindern zusammenzubringen, aber er hatte sich standhaft geweigert und war ihr stattdessen auf Schritt und Tritt gefolgt. Sein verzagtes kleines Gesicht rührte sie, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn abzuweisen. Er schien sich so sehr danach zu sehnen, geliebt zu werden. Nat wusste genau, wie sich das anfühlte.
Als sie die Seiten umblätterte, merkte sie nicht, dass der Kleine wieder den Daumen im Mund hatte und mit einer Hand ihre blonden Haare streichelte. Sie nahm nur Julians warmen kleinen Körper wahr, der an sie gedrückt war. Und sie freute sich über sein herzliches Lachen, wann immer sie Grandma Poss und Hush auf der Suche nach ihrem Zaubermittel nachahmte.
Dr. Alessandro Lombardi kam mit langen Schritten in den Hort. Er war hundemüde. Gefühlschaos, monatelanger Schlafmangel, der Umzug auf die andere Seite der Welt und der neue Job forderten ihren Tribut. Alessandro wollte nach Hause ins Bett und am liebsten ein Jahr lang
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