JULIA ARZTROMAN Band 26
früher aufgestanden und hatten einen ausgedehnten Spaziergang am Küstenpfad, der an Tregorran House vorbeiführte, unternommen. Natürlich konnten sie es nicht lassen, wieder einen Blick ins Haus zu werfen und dabei über die Renovierung zu reden. Auch die folgende Nacht hatte Lucy bei Ben verbracht und war am nächsten Morgen nur etwas früher aufgestanden, um noch einmal nach Hause zu fahren, ehe sie in die Praxis musste.
Und jetzt hätte ihr Vater Ben am liebsten erwürgt. Lucy war drauf und dran, den Mut zu verlieren.
Gedankenverloren streichelte sie ihren Bauch und ließ die Hand an der Stelle ruhen, wo er sich wölbte, weil das Baby sie stupste. Nach diesem Wochenende hatte sie fest daran geglaubt, dass alles gut werden würde.
Ben war wundervoll gewesen. Sie liebte ihn und wusste, dass er sie liebte. Sie würden heiraten und für immer glücklich in Tregorran House zusammenleben.
So hatte es sich angefühlt, am Wochenende, als sie noch auf Wolke sieben schwebte. Inzwischen hatte die Erde sie wieder. Lucy war unsanft gelandet.
Noch achteinhalb Wochen, dachte sie. Gut zwei Monate blieben ihr, um ihren Vater davon zu überzeugen, dass Ben ein guter Mann war, der nichts Böses getan hatte. Und die beiden zu versöhnen, damit ihr Vater sie zum Altar führen konnte, bevor das Baby zur Welt kam.
Die Chancen standen denkbar schlecht.
Sollte sie Ben einfach heiraten, ohne dass ihr Vater dabei war? Vielleicht heimlich, ohne sein Wissen? Lucy schluckte und drängte die Tränen zurück. Es war schon schlimm genug, dass ihre Mutter nicht dabei sein konnte. Wie sollte sie Hochzeit feiern, den schönsten Tag ihres Lebens, wenn ihr Vater nicht bei ihr war und sich mit ihr über ihr Glück freute?
Allein die Vorstellung war zum Heulen.
Lucy nahm sich zusammen. Ihre Patienten warteten, und nach der Sprechstunde hatte sie eine lange Liste an Hausbesuchen vor sich. Einen davon bei Edith Jones. Sie hatte schon versucht, die alte Dame anzurufen, aber ohne Erfolg. Sicher konnte es dafür viele Gründe geben, zum Beispiel, dass Edith eben nicht mehr die Schnellste war, wenn das Telefon klingelte.
Entschlossen verbannte sie sämtliche Gedanken an Edith, Ben und ihren Vater in den hintersten Winkel ihres Gehirns und rief den ersten Patienten auf.
Nachdem sie den letzten für diesen Vormittag verabschiedet hatte, streckte Doris Trefussis den Kopf in ihr Zimmer. Doris war die Putzfrau und unentbehrliche gute Seele der Praxis. „Ein Tässchen Tee, mein Vögelchen?“ Ihre Augen blitzten, und die vielen Fältchen in ihren Augenwinkeln vertieften sich. Angeblich war sie neunundfünfzig, aber das schon seit Jahren. Dünn, drahtig, immer ein Lächeln im Gesicht … Lucy hätte nicht gewusst, was sie ohne Doris anfangen würden.
„Nein, vielen Dank, Doris. Erst sind die Hausbesuche dran. Wegen Edith Jones mache ich mir ein bisschen Sorgen. Sie geht nicht ans Telefon.“
„Gestern war sie im Garten, schien alles in Ordnung zu sein. Wollen Sie nicht doch eine Tasse?“
Lächelnd schüttelte Lucy den Kopf. „Nein, aber Sie können mir gern einen kochen, wenn ich wieder hier bin. Und wenn Sie zwischendurch einen Moment haben, würden Sie mir schnell ein Sandwich vom Bäcker holen? Vollkornbrot, mit irgendwas Gesundem drauf und nicht zu viel Mayo?“
„Sicher doch, Liebes. Ich hole Ihnen ein Hühnchen-Sandwich, das ist leicht und bekömmlich. Und eine Apfeltasche, die mögen Sie doch so gern.“
„Sie sind ein Schatz.“ Lucy gab ihr Geld. Wenn das so weiterging, würde sie bald aussehen wie eine Tonne. Alle, einschließlich Ben, gaben sich die größte Mühe, sie mit Leckerbissen zu mästen. „Also, ich fahre jetzt zu Mrs. Jones. Bis später, Doris, und vielen Dank noch mal.“
Ediths kleiner Bungalow lag oberhalb des alten Ortskerns. Lucy stellte den Wagen ab, nahm ihre Arzttasche und drückte auf die Türklingel.
Drinnen blieb es still. Nicht einmal der Fernseher lief. Ungewöhnlich. Lucy klingelte ein zweites Mal und bückte sich, um die Klappe vom Briefschlitz anzuheben.
„Mrs. Jones?“, rief sie durch die schmale Öffnung. „Edith? Hier ist Dr. Lucy. Alles in Ordnung?“
Nichts. Sie wollte die Klappe schon wieder fallen lassen, da hörte sie einen Schrei.
„Edith? Sind Sie da?“
„In der Küche … Schlüssel unterm Blumentopf“, erklang eine zittrige Stimme.
Schön, aber unter welchem? Rechts und links der Haustür standen Dutzende, üppig bepflanzt und in allen Größen und Formen. Lucy hob die an, die
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