JULIA ARZTROMAN Band 26
noch nicht kommen, es ist viel zu früh. Ich hab doch noch sechs Wochen!“
„Keine Angst“, beruhigte er sie und drückte sie liebevoll an sich. „Der Rettungswagen ist unterwegs. Kate weiß Bescheid, sie kommt auch. Jetzt machen wir dir erst einmal ein Bett.“ Er lächelte aufmunternd, um zu verbergen, wie angespannt er im Grunde war.
Ben schob ein paar Heuballen zur Seite und machte aus frischem sauberem Stroh ein Lager. Dann zog er den Mantel aus und legte ihn darauf. Schließlich hob er Lucy auf die Arme und setzte sie in die Mitte. „Wir müssen dir die nasse Hose ausziehen.“ Er streifte sie ihr ab.
Verdammt. Sie hatte recht. Das Köpfchen trat bereits aus.
„Ich möchte pressen.“
„Nein. Warte noch – wenn es geht. Hecheln hilft. Kate müsste gleich hier sein.“
„Lucy?“, ertönte eine tiefe Stimme.
„Was macht er denn hier?“
„Er ist dein Vater.“
„Aber er wollte mich nie wiedersehen.“
„Lucy?“ Das klang drängender.
„Wir sind hier!“ Ben hätte nie geglaubt, dass er einmal unbeschreiblich froh sein würde, Nick Roberts zu sehen. Kate folgte ihm dichtauf, schob ihn aus dem Weg und drückte ihm dabei ein Entbindungsset in die Hand mit der Anweisung, es zu öffnen. Dann bat sie Ben, sich hinter Lucy zu setzen und sie zu stützen.
„Die Nabelschnur liegt um seinen Hals“, verkündete sie nach einer ersten Untersuchung. „Lucy, ich schiebe jetzt den Finger hinein, um sie zu lösen. Du darfst auf keinen Fall pressen. Halt noch kurz durch … ja, so ist es gut … tapferes Mädchen …“
Sie befreite das Baby aus der Schlinge, streifte sie über das Köpfchen, untersuchte wieder und lächelte schließlich. „Perfekt, Liebes. Wenn die nächste Wehe kommt, hecheln und dann sanft pressen, mit geöffnetem Mund … Großartig, schön atmen, ganz ruhig … Gut gemacht. Ben, kann ich deinen Pulli haben?“
Er zog ihn über den Kopf und reichte ihn rüber. Mit der zweiten Presswehe glitt das Kind heraus, und Kate fing es mit dem Pullover auf. Sie legte es Lucy auf den Bauch, sorgsam darauf bedacht, dass es gut zugedeckt war.
„Ich muss absaugen.“ Mit dem Orosauger, den Nick ihr hinhielt, reinigte sie rasch Mund und Nase des Säuglings. Ben hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
Auf einmal ertönte ein ungnädiger Schrei. Lucy schluchzte erleichtert auf, Ben schloss die Augen und drückte seine Frau an sich.
„Wenn du schon dein Kind zu Weihnachten im Stall bekommst, hätte es ruhig ein Junge sein können“, scherzte Kate, aber ihre Stimme verriet, wie gerührt sie war.
Lucy lachte auf und betrachtete liebevoll das winzige Wesen auf ihrem Bauch. „Ist es ein Mädchen?“
„Ja, Liebes. Herzlichen Glückwunsch.“ Kate drehte sich um. „Nick, gehst du eben raus und weist den Sanitätern den Weg? Ich höre die Sirene.“
Bevor er sich abwandte, erhaschte Ben einen Blick auf sein Gesicht. Nick wirkte zerrissen, und in seinen Augen spiegelten sich tiefe Gefühle wider. Ben wünschte, er könnte seine Worte von vorhin zurücknehmen. Auch wenn sie wahr waren.
„Ich liebe dich“, sagte er und drückte einen zärtlichen Kuss auf Lucys Schläfe.
Mit einem versonnenen Lächeln sah sie zu ihm auf. „Ich dich auch, Ben. Sieh sie dir an, ist sie nicht süß?“
Eigentlich nicht. Der kleine Körper war von Blut und Schleim bedeckt und von Resten der gelblichen Schicht, die seine Haut im Mutterleib schützte. So wie sie das runzlige Gesicht verzog, sah seine Tochter aus, als wäre sie maßlos empört. Und doch hatte er in seinem ganzen Leben noch nichts Schöneres gesehen …
„Ben? Es hat geklingelt. Machst du auf?“
Lucy saß im Bett und stillte die Kleine. Wo war Ben? Es war schon eine Weile her, dass er nach unten gegangen war, um Mittagessen zu kochen. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gehört.
„Ben?“
„Ich geh schon!“, rief er.
Die Haustür knarrte, dann herrschte Stille.
Stille?
„Ben, wer ist da?“ Keine Antwort. Lucy schlug die Decke zurück, stand vorsichtig auf und tappte, ihr Baby im Arm, zur Treppe.
Sie hörte Stimmen, verstand aber nicht, was gesagt wurde. Erst als sie den Treppenabsatz erreichte, sah sie den Besucher.
Die Haustür war geschlossen, und im Flur standen Ben und ihr Vater, die sich flüsternd unterhielten.
„Wenn ich wieder gehen soll, sag es.“
„Nein, nein, bleib hier, Nick. Aber ich möchte nicht, dass Lucy sich aufregt.“
„Versprochen. Ich wollte mich entschuldigen, Ben, bei euch beiden. Du
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