Julia Arztroman Band 62
musste feststellen, dass er doch noch recht schwach auf den Beinen war. Er ließ sich vom Zimmerservice eine Kanne Bohnenkaffee bringen, obwohl auf der Minibar ein Wasserkocher und Tütchen mit Instantkaffee, Zucker und Milch standen. Gina hatte recht gehabt: Er hasste Instantkaffee. Die Tatsache, dass sie sich an eine solche Nebensächlichkeit erinnerte, erhärtete seinen Verdacht, dass sie sich sehr nahegestanden hatten. Verdammt, warum konnte er sich an keine Einzelheiten erinnern?
Fluchend ging er ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Anschließend rief er die Rezeption an, ließ seinen Anzug in die Reinigung bringen und bat darum, ihm ein halbes Dutzend weiße Hemden und Unterwäsche zu besorgen. Bis sein Koffer auftauchte, konnte es noch eine Weile dauern. Als der Kellner ihm die bestellte Kanne Kaffee gebracht hatte, setzte er sich hin und inhalierte voller Genuss den Duft der frisch gemahlenen Bohnen.
Gina hatte ihn immer ausgelacht, wenn er das tat, und ihn einen Kaffee-Junkie genannt.
Plötzlich hatte Marco das Bild vor Augen, wie sie zusammen in seinem Lieblingscafé am Arno saßen. Gina hatte ihn angelächelt, und ihre schiefergrauen Augen hatten amüsiert gefunkelt, während ihre Wangen von der Hitze im Café gerötet gewesen waren. Es war Winter, und Gina hatte ihren Schal vergessen, also hatte er ihr seinen gegeben, einen dunkelgrauen Mohairschal, der perfekt zu ihrem blonden Haar passte. Sie sah so wunderschön aus, dass er nicht anders konnte: Er hatte sich einfach über den kleinen Tisch gebeugt und sie geküsst.
Marco erschauerte, so klar kam ihm diese Erinnerung vor. Gina hatte ihm erzählt, dass seit ihrer Begegnung drei Jahre vergangen waren, doch ihm war, als würden seine Lippen immer noch von dieser zarten Berührung prickeln. Als ob er immer noch die warme Leidenschaft ihres Mundes spürte, als sie seinen Kuss erwidert hatte.
Abrupt stand er auf, verwirrt von der Erkenntnis, dass auch Gina etwas für ihn empfunden haben musste. Dabei hatte er gehofft, dass sie nur eine flüchtige Affäre gehabt hatten. Aber er hätte bei ihrem Kuss nicht diese Intensität verspürt, wenn Gina nur irgendeine Frau gewesen wäre, mit der er geschlafen hatte. Und sie hätte nicht so leidenschaftlich reagiert, wenn er nur ein One-Night-Stand für sie gewesen wäre.
Marco ging ans Fenster und starrte hinaus. Nein, zwischen ihnen musste sehr viel mehr gewesen sein.
„Gina, da ist ein Anruf für dich“, hörte sie Julie rufen.
Gina eilte ins Büro und nahm ab. „Schwester Lee am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“
„Hallo, hier ist Marco.“
Vor Schreck verschlug es Gina die Sprache.
„Hallo, hören Sie mich? Ich bin es, Marco.“
„Ich … ähm … Ich dachte, Sie sind auf der Neurologie?“ Was wollte er? Unmöglich, dass er etwas über Lily erfahren haben konnte, oder? Gina schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass sie Marco nicht zugehört hatte und ihn bitten musste, seinen letzten Satz zu wiederholen.
„Ich sagte, dass ich mich heute Morgen selbst entlassen habe.“ Er klang verärgert. „Da ich körperlich wieder einigermaßen hergestellt bin, werde ich jetzt meine Gedächtnislücken in Angriff nehmen. Und deshalb muss ich mit Ihnen reden.“
„Tut mir leid, aber im Moment habe ich zu tun“, sagte sie schnell.
„Das verstehe ich. Ich wollte auch nur einen Zeitpunkt und einen Ort verabreden, um mich mit Ihnen zu treffen.“
Gina erschrak. Das war das Letzte, was sie wollte. „Aber wozu? Ich habe Ihnen doch schon alles erzählt, Dr. Andretti.“
„Wirklich alles?“ Die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Jawohl“, erklärte sie nachdrücklich. „Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“
„Ich habe mich erinnert, Gina.“
Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus. „Erinnert?“
„ Si. Ich habe zwar noch nicht alle Details zusammen, ich weiß aber jetzt, dass wir uns einmal sehr nahe gestanden haben.“ Seine Stimme wurde tiefer, und was er dann sagte, jagte Gina einen eisigen Schauer über den Rücken. „Wir waren Geliebte, richtig?“
„Ich …“ Ginas Kehle war wie zugeschnürt. Am liebsten hätte sie alles abgestritten, doch das erschien ihr sinnlos. „Ja, das waren wir.“
„Dachte ich es mir doch. Ich erinnere mich nämlich, dass wir gemeinsam in einem Café am Arno saßen. Es war ein kalter Tag, und du hast meinen Schal getragen. Si? “
Gina wusste sofort, wovon er sprach. Sie sah es förmlich vor sich, wie sie beide in diesem Café
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