Julia Arztroman Band 62
die eine Erinnerung, die ihn am meisten interessierte, blieb weiterhin im Dunkeln. Warum weigerte sich Gina so beharrlich, ihm zu erzählen, was damals passiert war? Und warum hatte sie Angst vor ihm? Er mochte ja Teile seines Gedächtnisses verloren haben, aber er wusste, dass er einer Frau niemals körperlich wehtun könnte.
Vielleicht war es klüger, das Ganze zu vergessen. Sie hatten eine Affäre gehabt, die unschön geendet war – gut, so etwas passierte. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass mehr dahintersteckte, dass er die Wahrheit über ihre Beziehung herausfinden musste. War er in Gina verliebt gewesen? War er überhaupt in der Lage, nach Francesca wieder eine Frau zu lieben?
Auf beide Fragen hatte Marco keine Antwort. Doch er ahnte, dass von diesen Antworten sein weiteres Leben abhängen könnte, und es machte ihn unruhig, dass Gina womöglich den Schlüssel zu seiner Zukunft in ihren Händen hielt.
Nach ihren freien Tagen hatte Gina Frühdienst. Auf der Station herrschte wie immer Hochbetrieb, und ehe sie sich versah, war es bereits Zeit für die Mittagspause. Gina wollte in der Kantine essen und war gerade auf dem Weg zu den Aufzügen, als jemand ihren Namen rief. Sie fuhr herum und sah Marco auf sich zukommen.
Nein, nicht er schon wieder! Sie wollte nicht mit ihm reden, doch um sein Misstrauen nicht weiter zu schüren, setzte sie ein unverbindliches Lächeln auf. „Was führt dich denn hierher?“
„Ich habe einen Termin.“
Er ließ ihr den Vortritt, wartete, bis sie den Knopf für die Kantine gedrückt hatte, und drückte dann auf die Fünf. Gina überlegte. Im fünften Stock befand sich die Verwaltung. Was konnte Marco dort zu suchen haben? Sollte sie ihn fragen? Nein, sie hielt es für klüger, kein Interesse an seinen Angelegenheiten zu zeigen.
„Geht es auf deiner Station immer noch so turbulent zu?“, erkundigte er sich beiläufig.
„Wie immer.“
„Das ist bei eurer Unterbesetzung ja auch kein Wunder.“
Gina wunderte sich, woher er diese Information hatte, fragte aber nicht nach. „Einer unserer Assistenzärzte ist bis auf Weiteres krank, und unser Chef ist Ende Oktober in Pension gegangen. Die Stelle ist ausgeschrieben, aber bis jetzt haben sie noch keinen Nachfolger gefunden.“
„Ja, gute Mitarbeiter sind rar“, pflichtete er ihr bei. „Ah, hier muss ich raus. Angenehme Pause.“
„Danke“, murmelte Gina und schaute Marco hinterher. Sie hätte zu gern gewusst, wohin er ging. Doch er bog an der ersten Ecke ab und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Schade, dachte sie, war aber froh, dass er sie nicht wieder mit Fragen gelöchert hatte. Verlor er langsam das Interesse an ihr? Oder hatte er sich inzwischen an ihre Affäre und die Gründe für ihr Ende erinnert?
In ihrem Inneren meldete sich ein leises Schuldgefühl, weil sie ihm nichts von Lily erzählt hatte, doch das wischte sie schnell beiseite. Es war gut, dass Marco nichts von ihrer gemeinsamen Tochter wusste. So konnte er nach Italien und in sein altes Leben zurückkehren, während sie und Lily sich ihr Leben hier einrichteten. Und dann bräuchten sie einander nie mehr wiederzusehen.
5. KAPITEL
Februar
Es hatte länger gedauert als gedacht, bis die notwendigen medizinischen Untersuchungen, die seine Arbeitsfähigkeit bestätigten, abgeschlossen waren und der Vertrag sämtliche Verwaltungsstellen durchlaufen hatte. Jetzt stand Marco vor der grauen Fassade des Krankenhauses und fragte sich, ob er verrückt gewesen war, diese Entscheidung zu treffen, die sein Leben verändern würde.
Normalerweise ließ er sich nicht zu spontanen Entschlüssen hinreißen. Doch jetzt war er dabei, ins kalte Wasser zu springen. Und wofür? Um ein Geheimnis zu lüften, das vielleicht gar nicht existierte?
Mit fest aufeinandergepressten Lippen betrat er das Foyer. Er wusste, dass ihn im fünften Stock ein Empfangskomitee erwartete, ging jedoch schnurstracks an den Aufzügen vorbei. Warum sollte er sich dafür danken lassen, dass er übergangsweise den Chefarztposten der Akutambulanz übernahm, wenn seine Entscheidung rein egoistischer Natur gewesen war? Weil er einfach herausfinden musste, was zwischen ihm und Gina passiert war … Und weil er diesen Job als einzige Chance dafür ansah.
In der Akutambulanz ging es wie immer hoch her. Er blieb in der Tür stehen, als er Gina entdeckte. Sie sprach gerade mit einer älteren Patientin und schien ihn nicht zu bemerken. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er ihr fein
Weitere Kostenlose Bücher